Neugeburt aus der Asche der Zivilisation

Die Hemmschwelle, in Kinofilmen hinter die schweren Türen deutscher Gaskammern zu blicken, ist in den vergangenen Jahren merklich gesunken. Auch die Kontroversen über das „Undarstellbare“, wie es „Shoah“-Regisseur Claude Lanzmann vor fast dreißig Jahren über Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ formulierte, klingen heute weniger apodiktisch. Die Frage von Ethik und Ästhetik, die Lanzmann noch in Eins setzte, haben sich voneinander entkoppelt – vielleicht auch im selben Maß, wie der Antisemitismus über siebzig Jahre nach dem Holocaust in der Gesellschaft immer subtilere Formen angenommen hat.

Es ist oft weniger Naivität, als vielmehr schiere Anmaßung, wenn ein Regisseur es heute wagt, einen Blick in die deutschen Todesfabriken zu werfen: dem Endpunkt der Menschlichkeit und der westlichen Zivilisation. Dem Ungarn Kornél Mundruczó mangelt es ganz sicher nicht an diesem Selbstbewusstsein.

Nur wenige europäische Arthouse-Regisseure haben es sich wie er zum Markenzeichen gemacht, ihren im Kern kleinen Filmen eine epische politische Dimension zu verleihen – die nicht selten dann auch der Intention des Autors entgegensteht. In „Jupiter’s Moon“ von 2017 wird ein Geflüchteter zu einer messianischen Figur. Und in seinem letzten Film „Pieces of a Woman“ filmt er seine Hauptdarstellerin Vanessa Kirby in einer ungeschnittenen, gut halbstündigen Geburtsszene.

Unbehagen stellt sich in „Evolution“ fast augenblicklich ein. Eine Gruppe Männer betritt wortlos einen dunklen Raum und beginnt wie manisch, die Wände und Böden zu schrubben. Es wird kein Wort gesprochen, aber je bestimmter die Männer ihre Arbeit verrichten, desto mehr kippt das Szenario ins Surreale. Einer von ihnen findet Haarreste in der Wandverkleidung, bald ziehen sie gemeinsam (immer noch stumm) absurd lange Haarbüschel aus Löchern, die sich auftun. Irgendwann hören sie das Weinen eines Babys, das sie aus einem Spalt im Boden bergen. Ein Wunder! Das Wunder der Geburt ist ein wiederkehrende Thema von Mundruczó und seiner Partnerin Kata Wéber, die erneut das Drehbuch geschrieben hat.

Mundruczó beginnt noch einmal bei Auschwitz

Die Schlusseinstellung des ersten Kapitels von „Evolution“ mutet dann bereits wie die Wiedergeburt der Menschheit an, aus der Asche der Zivilisation. Ein Militärjeep bringt das Neugeborene in Sicherheit, während sich die Kamera in die Lüfte erhebt und die Baracken eines KZs einfängt, die bis an den Horizont zu reichen scheinen.

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Diese merkwürdige, in ihrem Tonfall völlig disparate Ouvertüre, ist nur der Ausgangspunkt für ein weit größeres Thema, das Mundruczó und Wéber, deren Mutter die deutschen Konzentrationslager überlebte (und heute in Berlin wohnt), in „Evolution“ behandeln. Schon der Titel ist doppeldeutig zu verstehen. Es geht einerseits um die Prägung der nachfolgenden Generationen, andererseits um die Folgen des Holocaust in ihren alltäglichsten Auswirkungen: den Ressentiments, dem „ganz normalen“ Antisemitismus.

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Dass Mundruczó hierfür noch einmal bei Auschwitz beginnen muss, um im zweiten Kapitel in einer deutschen Wohnung zu landen – wo die inzwischen 60-jährige Eva (Lili Monori), die als Baby das KZ überlebte, mit ihrer Tochter Lena sitzt – hat dabei nicht nur mit Wébers eigener Biografie zu tun. Egal, wie Mundruczó den Fokus verschiebt, vom Panorama zum Kammerdrama, immer geht es ihm darum, in der Vignette auch ein pars pro toto zu finden.

(In acht Berliner Kinos, auch OmU)

Dass diese Gleichsetzungen mitunter schief sind – und darin auch nicht ganz unproblematisch –, nimmt er dabei in Kauf. In dieser Logik ist die Episode in der Küche, die eine ganze Lebensgeschichte auf einen Monolog zusammenschnurrt, nur ein Intermezzo. Lena (Annamária Láng) lässt diesen über sich ergehen. Sie sorgt sich nicht nur um ihre Mutter, sondern vor allem um Sohn Jónás (Goya Rego), der an eine jüdische Schule wechseln soll, weil er wegen seiner Herkunft von seinen Klassenkameraden gemobbt wird.

Dass diese drei Episoden so sauber ineinandergreifen, hat auch mit der Herkunft des Stoffes zu tun; „Evolution“ basiert auf einem Theaterstück von Mundruczó und Wéber. Für ihre Verfilmung haben sie in Yorick Le Saux allerdings einen Kameramann gefunden, der die Kontinuität der Geschichte in einen ungeschnittenen Bilderfluss übersetzt – wieder so eine filmische Angeberei, die formal diesmal aber sogar aufgeht. So entwickelt sich „Evolution“ aus den Traumata der Vergangenheit. Auf den Blick zurück folgt der Schritt nach vorn. Und da ist es nur folgerichtig, dass der Film, der als Holocaust-Wunder beginnt, als Coming-of-Age-Hoffnung endet.