Lasst uns die Langeweile loben

Es wäre ja so einfach: „Friedlich dasitzen, ohne etwas zu tun, / Der Frühling kommt / Und das Gras wächst von selbst.“ Byung Chul Han zitiert dieses Zen-Haiku in seinem neuen Buch „Vita contemplativa oder Von der Untätigkeit“. Der koreanisch-deutsche Philosoph will sich damit einreihen in die lange Tradition der Weltweisen, denen die menschliche Betriebsamkeit falsch erscheint; Jesus zum Beispiel.

Der hatte den in ihre Alltagssorgen verstrickten Menschen gleichnishaft die Vögel vor Augen gehalten: Sie säen und ernten nicht und würden dennoch vom „himmlischen Vater“ ernährt. Jesus kannte sich offenbar nicht gut aus mit Ornithologie. Denn Vögel müssen ziemlich aktiv sein im Überlebenskampf. Aber Jesus erwartete sowieso den baldigen Anbruch des Himmelsreichs, weshalb es auf das Säen und Vorsorgen nicht mehr so ankam.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Im Himmelreich – so sagt es Han mit dem Kirchenvater Augustinus – herrschen ewige Muße und reines Anschauen, also hundert Prozent Kontemplation. Lässt sich daraus aber eine Richtschnur für das irdische Leben mit seinen Mühen und Plagen gewinnen?

Wettern gegen den Effizienzwahn

Auch in seinem neuen Buch wettert Han wieder gegen den Effizienzwahn, den Leistungszwang, die Ökonomisierung, das instrumentelle Denken. Er will uns etwas Schwieriges lehren: das Nichtstun – in höherem Sinn, versteht sich: Untätigkeit nicht als banale Faulheit, sondern als Kunst des Geschehen-Lassens. Die „Zukunft der Menschheit“ (darunter macht Han es selten) hänge von der „Wiederbelebung des kontemplativen Vermögens“ ab.

[Byung-Chul Han: Vita contemplativa oder Von der Untätigkeit. Eine Kritik an unserer Leistungsgesellschaft Ullstein Verlag, Berlin 2022. 128 Seiten, 22,99 €.]

Der 1959 in Seoul geborene, heute in Berlin lebende Denker verhält sich selbst allerdings überaus dynamisch, schreibt – unbekümmert um thematischen Burn-out – jedes Jahr mindestens ein neues Buch, in dem er der Gegenwart die Leviten liest.

Ein Argumentationsgang lässt sich in seinem neuen Werk allerdings kaum ausmachen. Stattdessen folgt eine volltönende Behauptung auf die andere. Die „heutige“ Freizeit ist für Han angesteckt von der Rastlosigkeit und dem Effizienzdenken. Sie solle die Menschen fit machen für den kapitalistischen Alltag. Stimmt schon irgendwie. Aber irgendwie eben auch nicht. Denn es gibt genug Menschen, die von der permanenten Selbstoptimierung nichts wissen wollen.

Die „Hysterie der Gesundheit“ sei Ausdruck eines tiefgreifenden „Seinsmangels“. Die Menschen würden heute zwar länger leben, aber „in Wirklichkeit verkürzt sich das Leben zum Überleben“. Früher war mehr Seinsfülle, hätte Loriot gesagt.

Zielen aufs große Ganze

Dass er aufs große Ganze zielt, macht Han schon durch die Titel seiner Bücher deutlich: „Müdigkeitsgesellschaft“, „Transparenzgesellschaft“, „Palliativgesellschaft“. Er greift zeitgemäße Reizworte auf und stellt ihnen positiv aufgeladene Begriffe gegenüber: „Wenn das Herz das Organ für Erinnerung und Gedächtnis ist, dann sind wir im digitalen Zeitalter ganz ohne Herz. Wir speichern Unmengen von Daten und Informationen, ohne jedoch Erinnerungen nachzugehen“, schreibt er.

So konstruiert er seine Suada aus suggestiven Antithesen, die aber selten gründlich durchdacht werden. Denn haben nicht auch „Erinnerungen“ etwas mit gespeicherten Informationen zu tun? Han stellt „additive Information“ (schlecht) der „verbindlichen Narration“ (gut) gegenüber. Aber was genau wäre heute eine „verbindliche Narration“?

Anstelle von Begründungen findet man die Beglaubigung durch die Zitate philosophischer Autoritäten, allen voran Martin Heidegger und Theodor W. Adorno, an deren Gestus der Gegenwartsverwerfung Han anschließt. „Heute“ ist für ihn nur ein anderes Wort für das rundum falsche Leben. Außerdem bedient er sich viel bei Nietzsche und den einschlägigen Franzosen von Deleuze bis Barthes. Dazu eingestreute fernöstliche Weisheiten und ein bisschen gute Müdigkeit von Peter Handke. So hangelt sich Han von einer bedeutsamen Anleihe zur nächsten.

„Die Langeweile ist die Schwelle zu großen Taten“, verkündet er mit Walter Benjamin. Wie so viele Sentenzen Benjamins zerfällt der Satz bei näherem Hinsehen. Stimmt das wirklich? Man würde sich wünschen, dass Han solche charismatischen Redeweisen auch einmal kritisch unter die Lupe nähme.

Leicht gemachte Punkte

In der zweiten Hälfte des Buches setzt sich er endlich einmal mit einer Theorie des Handelns auseinander – Hannah Arendts Konzeption der „Vita activa“. Es ist mit ihrem „Messianismus der Freiheit“ allerdings eine Theorie des Politischen, die in ihren Setzungen (nach denen alles Soziale und Ökonomische im Bereich des Politischen nichts verloren habe) so angreifbar ist, dass Han hier sehr leicht Punkte machen kann.

Kürzlich hat bereits die Philosophin Juliane Rebentisch in ihrem Buch „Der Streit um Pluralität“ ausgiebig mit diesem fragwürdigen, viele menschliche Nöte ignorierenden Teil des Arendtschen Denkens gehadert, allerdings auf der Abstraktionshöhe von Suhrkamp Wissenschaft.

Nur in der „Vita contemplativa“ ist für Han die „Harmonie und Ganzheit des Seins“ erfahrbar. Während er bei Arendt das „Pathos des Handelns“ kritisiert, folgt er gern der deutschen Romantik mit ihrer Sehnsucht nach einem Weltzustand, in dem sich das Geheimnis und der Zusammenhang alles Lebendigen aufschließen. Er preist den „Zusammenklang der Dinge“ in den Gemälden Cézannes. Das sind für ihn mehr als Stimmungswerte und erleuchtete ästhetische Momente. Alle Dinge und Wesen werden einander freundlich, wie in der Prophezeiung Jesajas einst der Löwe friedlich beim Lamm liegen wird.

Übergang ins Theologische

Während sein Stichwortgeber Adorno sich auf Negation und Kritik beschränkte und bloß notorisch die Chiffre der „Versöhnung“ beschwor, scheut Han sich nicht, immer wieder an die Erlösungsbildwelt der Religionen anzuknüpfen. Ganz ernst ist es ihm mit diesem Übergang ins Theologische aber wohl nicht. Es kommt ihm mehr darauf an, die suggestive poetische Bildlichkeit auszureizen, die den uralten Sprachspielen der Religion eigen ist.

Dass Muße und Kontemplation meist nur möglich sind, wenn die Grundversorgung und Infrastruktur in einer Gesellschaft gesichert sind, wenn also sehr viel effiziente Arbeit geleistet wird und Millionen Rädchen im hochkomplexen ökonomischen Getriebe verlässlich ineinandergreifen (die Lieferkettenprobleme zeigen uns gerade, dass das keineswegs selbstverständlich ist) – dies alles weiß natürlich auch Byung-Chul Han. Deshalb mildert er am Ende den Ton vom Polemischen ins Praktikable. „Vita activa“ und „Vita contemplativa“ müssten zusammenwirken in der „Vita composita“. Dagegen ist nun wirklich nichts einzuwenden.