Freud und Leid der letzten Minute: Wenn die Körperfunktionen außer Kontrolle geraten

Als sein aktueller Arbeitgeber, der DSC Arminia Bielefeld, die vielleicht dramatischsten und schmerzhaftesten Momente seiner Vereinsgeschichte erlebt hat, da war Uwe Koschinat noch Trainer bei Fortuna Köln. Im Mai 2014 war das, die Arminia musste als Drittletzter der Zweiten Liga in der Relegation gegen den SV Darmstadt 98 ran, den Dritten der Dritten Liga, und nach dem Hinspiel sah es glänzend aus für die Arminen: Der vermeintliche Favorit hatte in Darmstadt 3:1 gewonnen.

An diesem Freitag (20.45 Uhr, live bei Sat1 und Sky) treten die Bielefelder wieder in der Relegation an. Wieder geht es gegen den Abstieg aus der Zweiten Liga, und wieder müssen sie zuerst auswärts ran, diesmal gegen den SV Wehen Wiesbaden. „Es wird ja oft erzählt, dass der Zweitligist Favorit ist, aufgrund der höheren individuellen Qualität oder so“, sagt Bielefelds Trainer Koschinat. „Das ist aber nicht so. Das hat die Historie gezeigt.“

Das hat vor allem die Historie der Arminia gezeigt, die es im Mai 2014 tatsächlich geschafft hat, ihren scheinbar komfortablen Vorsprung gegen Darmstadt im eigenen Stadion noch zu verspielen. 1:3 hieß es auf der Alm nach 90 Minuten, 2:4 nach der Verlängerung. Und so ist das Duell zwischen Bielefeld und Darmstadt bis heute wohl eines der spektakulärsten überhaupt, seitdem die Relegation wiedereingeführt worden ist.

Als kurz vor Schluss das Tor fällt, das den Drittligisten in der Gesamtabrechnung an Bielefeld vorbeiziehen lässt, da startet von der Bank der Darmstädter aus „ein kleiner Platzsturm“, wie deren Trainer Dirk Schuster sagt. „Wir standen plötzlich mitten auf dem Feld. Das war so nicht gewollt.“

Vom Himmel in die Hölle – oder umgekehrt

Die Körperfunktionen geraten außer Kontrolle. Sie machen, was sie wollen. Und das alles nur, weil der eingewechselte Elton da Costa in der zweiten Minute der Nachspielzeit mit einem abgefälschten Distanzschuss das 4:2 erzielt hat.

Doch damit nicht genug der Dramatik. In der dritten Minute der Nachspielzeit gibt es noch einmal einen Freistoß für Bielefeld. Stefan Ortega, Arminias Torhüter, ist mit nach vorne geeilt. Er verlängert die Freistoßflanke mit dem Kopf, Arne Feick kommt an den Ball – und setzt ihn an den Pfosten. Es bleibt beim 4:2. Kurz danach ist Schluss. „Darmstadt schafft das Wunder von der Alm!“, ruft der Radioreporter vom Hessischen Rundfunk in sein Mikrofon.

Zu früh gefreut. Die Fans des Hamburger SV feierten am vergangenen Sonntag schon den Aufstieg ihres Klubs.
Zu früh gefreut. Die Fans des Hamburger SV feierten am vergangenen Sonntag schon den Aufstieg ihres Klubs.
© IMAGO/Lobeca

Die Relegation zur Ersten und zur Zweiten Liga, das Pokalfinale an diesem Wochenende, die Endspiele in den Europapokalwettbewerben: In diesen Tagen hätte der Fußball wieder reichlich Gelegenheiten für dramatische Wendungen im Angebot. Endspiele sind prädestiniert für Zuspitzungen in letzter oder auch allerletzter Minute.

Aber selbst im Ligaalltag nach 306 (oder auch 380) Spielen kann sich eine ganze Saison zu einem einzigen Moment verdichten. So wie am vergangenen Wochenende: erst am Samstag in der Dritten Liga, in Osnabrück und Wiesbaden, tags darauf dann eine Klasse höher, in Regensburg und Sandhausen.

Das war die größte Geschichte meiner Karriere.

Felipe Santana über sein Tor zum 3:2 für Borussia Dortmund gegen den FC Malaga

„In schöner Regelmäßigkeit ist Fußball doch immer das Gleiche“, hat der frühere Fußballtrainer Hans Meyer einmal gesagt. Dass der Fußball mit seiner Lust an Wiederholungen allerdings an zwei aufeinanderfolgenden Tagen zweimal die gleiche Geschichte erzählt, das ist zumindest außergewöhnlich.

Am vergangenen Samstag stürmten die Fans des SV Wehen Wiesbaden nach dem Spiel ihrer Mannschaft den Platz – im Glauben, sicher in die Zweite Liga aufgestiegen zu sein. Aber ihr Konkurrent, der VfL Osnabrück, spielte noch. Am Sonntag stürmten die Fans des Hamburger SV nach dem Spiel ihrer Mannschaft beim SV Sandhausen den Platz – im Glauben, sicher in die Bundesliga aufgestiegen zu sein. Aber ihr Konkurrent, der 1. FC Heidenheim, spielte noch.

Osnabrück lag 0:1 zurück, erzielte in der siebenminütigen Nachspielzeit zwei Tore gegen die U 23 von Borussia Dortmund und verdrängte Wiesbaden damit noch auf den Relegationsplatz. Heidenheim lag 1:2 zurück, erzielte in der fünfzehnminütigen Nachspielzeit zwei Tore gegen Jahn Regensburg und verdrängte den HSV damit noch auf den Relegationsplatz.

Nachspielzeit heißt: Drama!

Ein Spiel dauert 90 Minuten und eine Minute sechzig Sekunden. Nichts könnte falscher sein. Ein Spiel dauert so lange, bis der Schiedsrichter abpfeift. Und eine Minute kann auch 180 Sekunden dauern. Oder 360. Oder, wie wir seit der WM in Katar wissen, im Extremfall auch mal 840 Sekunden. Zumindest, wenn es die letzte Minute des Spiels ist.

In den Fußballregeln ist das alles in schlichter Prosa exakt geregelt. Nachspielzeit ist die „Zeit, die aufgrund von Auswechslungen, Verletzungen, Disziplinarmaßnahmen, Torjubel etc. verloren geht und am Ende jeder Halbzeit (einschließlich der Verlängerung) nachgeholt wird“, heißt es da. Und: „Die meisten Unterbrechungen gehören zum Spiel (z. B. Einwürfe, Abstöße). Nachzuspielen ist nur, wenn es zu übermäßigen Verzögerungen kommt.“

Nachspielzeit heißt Mindestnachspielzeit. Das hat der VfL Bochum dank des Tores von Igor de Camargo (2. v. l.) in der Relegation 2011 auf schmerzhafte Weise lernen müssen.
Nachspielzeit heißt Mindestnachspielzeit. Das hat der VfL Bochum dank des Tores von Igor de Camargo (2. v. l.) in der Relegation 2011 auf schmerzhafte Weise lernen müssen.
© imago sportfotodienst

Im echten Leben heißt Nachspielzeit: Drama! So wie vor einem Jahr, als sich der VfB Stuttgart durch den Siegtreffer des Japaners Wataru Endo gegen den 1. FC Köln kurz vor Schluss den Klassenerhalt sicherte. So wie im Relegationshinspiel 2011, als Bochums Trainer Friedhelm Funkel tobte, weil das 1:0 für Borussia Mönchengladbach seiner Meinung nicht hätte zählen dürfen. Es war nach Ablauf der angezeigten Nachspielzeit gefallen.

Oder so wie 2015, ebenfalls in der Relegation, diesmal im Rückspiel, als Marcelo Diaz die HSV-Legende Rafael van der Vaart wegschickte („Tomorrow, my friend“) und sein Team dann mit einem direkt verwandelten Freistoß gegen den Karlsruher SC in die Verlängerung rettete.

Vom Meister zum Meister der Herzen

Der Nachspielzeit hat die Bundesliga eine der spannendsten Meisterschaftsentscheidungen ihrer Geschichte zu verdanken. Im Mai 2001 gerieten die Bayern beim HSV in der letzten Minute der regulären Spielzeit 0:1 in Rückstand. Die Fans ihres Konkurrenten Schalke 04 feierten im knapp 350 Kilometer entfernten Parkstadion bereits die erste Meisterschaft nach 43 Jahren – und wurden durch ein Freistoßtor des Schweden Patrik Andersson zum 1:1 für die Bayern doch noch jäh aus ihren Titelträumen gerissen.

Nachspielzeit heißt Ekstase. Wie 2013, im Viertelfinalrückspiel der Champions League, im Dortmunder Westfalenstadion, als der BVB bei Anbruch der vierminütigen Nachspielzeit 1:2 gegen den FC Malaga zurücklag. Zwei Tore mussten die Dortmunder noch erzielen, um nach dem 0:0 im Hinspiel doch noch weiterzukommen. Unmöglich? Eigentlich ja.

Späte Tore sind schmerzhaft. Manchmal auch für den Schützen so wie hier Felipe Santana nach seinem Treffer zum 3:2 für den BVB gegen Malaga.
Späte Tore sind schmerzhaft. Manchmal auch für den Schützen so wie hier Felipe Santana nach seinem Treffer zum 3:2 für den BVB gegen Malaga.
© imago images/Fotostand

Aber nach dem 2:2 durch Marco Reus dauerte es nur 69 Sekunden, ehe Innenverteidiger Felipe Santana den Ball zum 3:2 über die Linie bugsierte. „Das war die größte Geschichte meiner Karriere“, sagt der Brasilianer. In fünf Jahren in Dortmund ist er nie dauerhaft über den Status eines Ergänzungsspieler hinausgekommen, und doch hat er sich einen Eintrag in der Chronik des BVB gesichert. Weil er im entscheidenden Moment an der richtigen Stelle stand.

Alles nur Glück? Nachdem der Holländer Rafael van der Vaart 2005 von Ajax Amsterdam in die Bundesliga gewechselt war, hat er seinen Landsleuten mit einiger Hochachtung von seinen Erfahrungen in der Fremde berichtet. Die Deutschen stehen in seinem Heimatland im Ruf, erst besiegt zu sein, wenn sie geschlagen im Mannschaftsbus sitzen. In Hamburg stellt er fest: Es kommt nicht von ungefähr: „Die trainieren das!“ Im Training rufe der Trainer die letzte Minute aus, und dann mobilisierten alle noch einmal alle Kräfte.

Niemand, zumindest nicht in Deutschland, hat es in dieser Disziplin zu einer solchen Meisterschaft gebracht wie der FC Bayern München, der sich erst am vergangenen Wochenende wieder durch ein spätes Tor (in der vorletzten, nicht in der letzten Minute) den kaum noch für möglich gehaltenen Titel gesichert hat. Und es passt natürlich ins Bild, dass der BVB, der Konkurrent im Kampf um die Meisterschaft, zwar ebenfalls in der Nachspielzeit noch einmal traf, dass die Dortmunder aber zwei Tore hätten schießen müssen, um wieder auf Platz eins zu springen.

Vom Himmel in die Hölle. Oliver Kahn (l.) und Mehmet Scholl nach dem Drama von Barcelona im Mai 1999.
Vom Himmel in die Hölle. Oliver Kahn (l.) und Mehmet Scholl nach dem Drama von Barcelona im Mai 1999.
© imago/PanoramiC

Gerade weil die Bayern im Ruf stehen, das späte Glück erfunden und als Bayern-Dusel patentiert zu haben, ist kaum ein Spiel so legendär wie das, in dem die Bayern auf eben bayrische Art bezwungen worden sind. Im Mai 1999 war das, im Finale der Champions League gegen Manchester United. In Barcelona erlitten die Münchner damals „die Mutter aller Niederlagen“, wie das Fußballmagazin „11 Freunde“ zehn Jahre nach dem historischen Finale geschrieben hat.

Die Bayern führten durch ein frühes Tor von Mario Basler 1:0, als im Camp Nou eine dreiminütige Nachspielzeit angezeigt wurde. An der Seitenlinie begannen die Vorbereitungen für die Siegesfeier. Bei den Bayern wurde der Champagner bereitgestellt, und der kurz vor Ablauf der regulären Spielzeit ausgewechselte Basler setzte sich schon mal eine jener vorproduzierten Kappen auf den Kopf. „Champions Leauge-Sieger 1999 – FC Bayern München“ steht darauf.

Doch dann kommen 102 Sekunden, die alles verändern.

Lennart Johansson, der Präsident des europäischen Fußballverbandes Uefa, Franz Beckenbauer, der Präsident der Münchner, und Bayerns Edelfan Boris Becker haben sich kurz vor Schluss von der Vip-Tribüne auf den Weg zur Siegerehrung aufgemacht. Sie nehmen den Aufzug, hören gedämpften Jubel und sind sich sicher: Das Spiel ist vorbei. Als sie das Spielfeld erreichen, sieht Boris Becker jubelnde United-Spieler. „Mist, doch der Ausgleich“, denkt er.

102

Sekunden brauchte Manchester United in der Nachspielzeit 1999 gegen den FC Bayern um das Finale der Champions League zu drehen – also nach der offiziell letzten Minute.

Aber die Spieler aus Manchester bejubeln nicht den Ausgleich, sie bejubeln das 2:1 durch Ole Gunnar Solskjaer, das wie das 1:1 durch Teddy Sheringham im Anschluss an eine Ecke gefallen ist. Es ist der Sekundentod für die Bayern. Die Folgen hat Mario Basler in seiner Autobiografie so beschrieben: „Ich stürze vom Himmel in die Hölle.“