„Kaltstart“ (Folge 2): Winter in der Weltliteratur

Auch in Zeiten der allgemeinen Erderwärmung fröstelt uns wieder. Doch verheißen Schnee und Eis seit unseren Kinderträumen neben den Zitterpartien zugleich die wahren Winterfreuden. Eines der schönsten (und natürlich gruseligsten) Märchen beginnt mit drei roten Tropfen Blut im Schnee. Der warme Saft des Lebens verbindet sich in „Schneewittchen“ sofort mit dem kalten, strahlenden Weiß.

Überhaupt spielt alle große Dichtung mit solchen Kontrasten und Ambivalenzen. Friedrich Hölderlins Poem „Hälfte des Lebens“ beschwört vor 220 Jahren zuerst den Sommer: „Mit gelben Birnen hänget / und voll mit wilden Rosen / das Land in den See…“ Um in der zweiten Hälfte zu enden: „Weh mir, wo nehm ich, wenn / es Winter ist, die Blumen und wo / den Sonnenschein / und Schatten der Erde? / Die Mauern stehn / sprachlos und kalt, im Winde / klirren die Fahnen.“

Gerade die beiden letzten Verse gehören zu den bildstärksten der winterlichen Weltliteratur. Sind schrecklich schön, und so kommt zur Trauer der Trost. Das kalte Bild wärmt zugleich. Und selbst ein Menetekel der Moderne, der Untergang der Titanic, gehört ja zu unseren lustvollsten Mythen.

Während ein Eisberg wie ein gigantisches Messer den Rumpf des vermeintlich unsinkbaren Riesenschiffes aufschlitzt und die kalten Wassermassen Menschen und Maschinen schon in der Tiefe fluten, spielt hoch oben in der Luxusklasse noch das Orchester, und was dort fließt, ist Champagner.

Nichts trifft die Lage zwischen Reich und Arm, Oben und Unten, Erster und Zweiter Welt – und alle im selben Boot! –jemals besser. Kein Wunder, dass der jüngst verstorbene Hans Magnus Enzensberger der „Titanic“ als genialischer Zeitgeistspürer sein wohl schönstes Epos gewidmet hat.

Vor jetzt 450 Jahren, am 5. Januar 1523, ist der elsässische Postbeamte Andreas Egglisperger über eine verschneite Ebene geritten und hat hinterher erfahren, dass er kein sicheres Land, sondern den zugefrorenen Bodensee überquert hatte. In der späteren Ballade von Gustav Schwab trifft den Mann, als er von seinem Ritt über den Abgrund erfährt, vor Schreck ein Herzschlag.

Unsere Herzen aber schlagen noch weiter. Wir tanzen in diesem Winter der Zwanziger Jahre auf dem gefrorenen Vulkan.

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