Heilig respektlos: Eine Fluxus-Ausstellung in der Kirche

Man vergisst glatt, dass dies eine Kirche ist. Im Längsraum von St. Matthäus am Berliner Kulturforum steht jetzt ein langer Tisch, Predigten finden am Herd statt. Sämtliche Stühle orientieren sich statt zum Altar zu der monumentalen Tafel im Raum, auf der sich Kunst von Daniel Spoerri, Emmet Williams, Alison Knowles oder Yoko Ono ausbreitet. Was von wem stammt, spielt in der Ausstellung „Holy Fluxus“ allerdings eine untergeordnete Rolle: Es ist auch müßig, zwischen den grandiosen Koproduktionen nach individuellen Handschriften zu suchen. Wer genauer hinschaut, der findet hier eine Locke oder entdeckt dort eine Unterhose unter Glas. Aber will man wirklich wissen, ob und wer sie vor Jahrzehnten getragen hat?

Weit mehr geht es um den schier überwältigenden Eindruck, den die mit Bildern gepflasterten Kirchenwände, die farbigen Glasfenster von Williams und der proppenvolle Tisch hinterlassen. Die Künstler und Künstlerinnen trafen sich bei Weinflaschen, bekritzelten Servietten und andere Alltagsdinge und erklärten sie zu Artefakten. Kraft ihrer Signatur, was sie sich von Marcel Duchamp und seinen Readymades, so dem Flaschentrockner von 1914, abgeschaut haben. Und doch herrscht ein halbes Jahrhundert später ein anderer Geist der Avantgarde, den die Schau lustvoll herausarbeitet: Diskussionen, Ideen, poetische Beiträge und vorgeblich lapidare Aktionskunst prägen die Atmosphäre, an die Stelle des einfallsreichen Genies tritt die kreative Fluxus-Gemeinschaft. Und Francesco Conz war ihr unermüdlicher Gastgeber.

Erst Galerist, dann Sammler

Der kurzzeitige Galerist und lebenslange Sammler lernte 1972 in West-Berlin den Kunstverleger René Block wie auch den radikalen Aktionskünstler Günter Brus kennen. Kurz danach schloss er seine Ausstellungsräume in Venedig und mietete einen Palazzo im historischen italienischen Ort Asolo. Hier und später in Verona tummelte sich die Fluxus-Szene: Conz lud ein, und Nam June Paik, Hermann Nitsch, Charlotte Moorman – deren legendärer „Avantgarde“-Volkswagen in Berlin im benachbarten Kunstgewerbemuseum zu sehen ist –, Al Hansen oder Joe Jones kamen. Letzterer blieb gleich für sieben Jahre, die Atmosphäre muss einzigartig gewesen sein.

Francesco Conz sorgte für immer neues Arbeitsmaterial. Wer zu ihm kam, der sollte wie Esther Ferrer 1986 mindestens ein Piano künstlerisch interpretieren. Der Nachschub an jenen bürgerlichen, von Fluxus ordentlich demontierten Symbolen riss nicht ab, genau wie das Essen und der Alkohol. Ein fotografisches Archiv, aus dem in einer Kapelle von St. Matthäus endlos Bilder projiziert werden, zeigt das wechselnde Künstlerkollektiv. Meist am Tisch, trinkend und rauchend in Diskussionen vertieft, die bereits als Happenings fungierten. Conz verlegte die Editionen dazu, die damals allerdings bloß einen kleinen Kreis von Fans ansprachen.

Ein chaotischer Nachlass

Als Conz 2010 starb, hinterließ er neben einer chaotischen Sammlung von Tausenden Fluxus-Werken und solchen des Wiener Aktionismus auch große Teile der gut 500 Editionen mit aufwändig gemachten Portfolios und Siebdrucken auf Stoff. Ein erster Verkauf mündete in der Abspaltung der Wiener Künstler, inzwischen gehört die Sammlung einem privaten Unternehmer, der sie seit 2016 in Berlin im Archivio Conz aufarbeiten lässt. Daraus speist sich die Ausstellung „Holy Fluxus“, kuratiert von Archiv-Direktor Hubertus von Amelunxen und der ehemaligen Berliner Galeristin Monika Branicka.

Ihre aktuelle Auswahl von 200 Highlights mischt konkrete Poesie mit Partituren und Arbeiten, die sich ohne größeren Respekt dem Fetisch künstlerischer wie kirchlicher Herkunft widmen. Reliquien werden produziert und zerstört, es gibt Aufrufe zum Widerstand gegen alles, Konventionen interessieren ohnehin nicht. Das muss erst einmal aushalten, wer wie Pfarrer Hannes Langbein in St. Matthäus predigt – zumal ein alter, künstlerisch veredelter Herd als Ambo den Respekt vor der Kirche auch ein wenig untergräbt. Dafür etabliert sich vor Ort ein spannungsvoller Dialog. Man fühlt es sofort: Fluxus und Kirche, das ist eine experimentelle, mitunter explosive Verbindung.