Der Sommer, den wir verdient haben
Vögel und Wale werden nicht nach der Bedeutung ihrer Lieder gefragt oder nach ihren Inspirationsquellen. Musiker*innen schon. Und weil sie das mitunter überhaupt nicht mögen, kann es passieren, dass sie recht seltsame Antworten geben.
Etwas in dieser Art zum Beispiel: „Das zentrale Thema des Albums ist die Rückkehr der Unterdrückten, aber auch die Dringlichkeit der intersubjektiven Anerkennung. Ich denke, diese Songs handeln zudem von der Beherbergung von Andersartigkeit im Selbst und davon, wie wichtig es ist Zurückweisungen ungeschehen zu machen – und von Sex.“ So die US-amerikanische Sängerin und Gitarristin Corin Tucker über das neue Album ihrer Band Sleater-Kinney.
Der „Portlandia“-Erfolg befeuerte das Comeback der Band
Allerdings bestehen berechtigte Zweifel daran, dass sie das wirklich gesagt hat, denn das Zitat stammt aus einer fiktiven Fernsehsendung über die Entstehung von „Path Of Wellness“ (Mom-Pop), in der sich das Duo aus Portland von Freund*innen darstellen lässt. Die Szene mit der verschwurbelte Platten-Analyse wird etwa von der Comiczeichnerin Alison Bechdel gespielt. Gleich im Anschluss tritt Künstlerin, Filmemacherin und Autorin Miranda July in der Rolle von Bandmitglied Carrie Brownstein auf, die den Punkt mit dem Sex weiter ausführt.
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Mit seinem leicht beknackten Hipster-Humor erinnert diese halbstündige Show, durch die ein Moderator mit sonorer Stimme führt, an die von Carrie Brownstein mitentwickelte Fernsehserie „Portlandia“. Sie lief von 2011 bis 2018 in acht Staffeln und war deutlich erfolgreicher als ihre Mitte der Neunziger gegründete Band, die 2005 eine „unbefristete Pause“ ankündigte.
Deren Comeback vor sechs Jahren profitierte von Brownsteins gewachsener Popularität – und jetzt können „Portlandia“-Fans, die die Serie vermissen, auf Youtube zumindest eine kleine Regie-Arbeit von ihr anschauen.
Zentral darin sind mehrere Auftritte von Sleater-Kinney (den echten!), die einige ihrer neuen Songs spielen. Zwar wird nicht ganz klar, ob es darin tatsächlich um „die Dringlichkeit der intersubjektiven Anerkennung“ oder gar um Sex geht, doch man hört sofort, dass es sich um klasse Rocksongs mit immenser Power handelt.
Als erstes spielen sie den Eröffnungs- und Titelsong, der auf einem eckigen Groove mit schicken Cowbell-Akzenten losdonnert. Wenn die Stimmen der beiden Sängerinnen erklingen, ist man sofort wieder im Bann der Band. Und das obwohl Gitarren erst in der Mitte des 2:40-Minuten-Stücks nennenswert in Erscheinung treten.
Dafür startet das folgende „High In The Grass“ mit einem heftigen Prog-Gewitter, um dann abrupt abzubremsen. Corin Tuckers Gesang steigt so lieblich in die Höhe als habe sie ins Singer-Songwriter-Fach gewechselt, sogar eine Akustikgitarre taucht auf. Im Refrain kehrt sie zurück in den Indie-Rock und skandiert: „The spring night came alive and we lost our minds/ And danced to no music like fools“.
Die einstige Riot Grrrl-Wut haben sie hinter sich gelassen
Starkes Songwriting, Detail- und Ideenreichtum prägen die zehnte Platte der Band – die erste von ihnen selbst produzierte. Beim Vorgängeralbum „The Center Won’t Hold“ (2019) hatte die New Yorker Avantgarde-Rock-Musikerin St. Vincent diese Aufgabe übernommen, was zu einem eher in deren Richtung orientierten Sound führte, aber nicht zu einem sonderlich überzeugenden Album.
Drummerin Janet Weiss, seit 1997 bei Sleater-Kinney, verließ die Band kurz vor Veröffentlichung des Werkes, weil sie sich kreativ nicht mehr involviert fühlte. Die Regeln in der Band hätten sich verschoben, sie sei aufs Schlagzeugspielen reduziert worden, sagte sie in einem Interview.
Auf „Path Of Wellness“ sind verschiedene Drummer*innen zu hören, unter anderem Angie Boylan und Vincent LiRocchi, der auch bei den Live-Mitschnitten aus der Fake-TV-Show mitspielt. Die Ersatzleute machen ihre Sache gut, trotzdem fragt man sich einige Male wie das Album wohl mit Weiss geklungen hätte. Eckiger und widerständiger vielleicht? Nicht so popprockig wie im Refrain von „Shadow Town“ und ohne sanfte Fender Rhodes-Momente?
Mit der alten Riot Grrrl-Krawalligkeit haben die elf Songs nichts mehr zu tun. Doch Hakenschlagen und Neues ausprobieren war ja schon immer eine Stärke von Sleater-Kinney. Diesmal geben sie sich äußerst zugänglich, gelegentlich schon fast classic rock-haft. Irgendwie passt es, dass Carrie Brownstein derzeit an einem Film über die US-Rockband Heart arbeitet.
Die Gitarren sind exzellent arrangiert auf „Path Of Wellness“. Genau wie beim Gesang ergänzt sich das Duo wie immer auf geradezu telepathische Weise. Tucker sorgt für druckvolle Riffs, Brownstein ist für die mäandernden, verspielten Linien zuständig. Dass ihr – ähnlich wie J Mascis auf dem aktuellen Dinosaur-Jr-Album immer wieder Soli gelingen, die nicht mit aufmerksamsheischender Virtuosität nerven, sondern den Songs einen flirrenden Zauber verleihen, gehört zur beeindruckenden Entwicklung 46-jährigen dieser Musikerin. Man achte nur einmal auf ihren melancholischen Solo-Beitrag in „Tommorrow’s Grave“ oder das Intro und die Fill-Ins in „Method“.
Aufgenommen im Pandemie-Sommer 2020 als Portland große Black-Lives-Matter-Demonstrationen und bedrohliche Feuer erlebte, finden sich einige Bezügen zu dieser Zeit in den Lyrics des Albums. In „Down The Line“ heißt es an einer Stelle: „It’s not the summer we we’re promised/ It’s the summer that we deserve“. Die erste Strophe des Abschlussstücks „Bring Mercy“ ist von Verzweiflung geprägt.
Corin Tucker singt über Gewehre in der Stadt, schmutzige Taten und Verlorenheit in der Isolation. Trotzdem gehört der Song zu den eingängigsten und auch hoffnungsvollsten des Albums, denn der Refrain bittet um Barmherzigkeit, Liebe und Wandel: „Bring mercy, bring love/ No need to attend the people we were before“. Eine schöne Hippie-Botschaft für den Sommer.
Und was ist jetzt mit dem Sex? Den gibt’s auch, aber explizit geht es eher um Liebe. So erzählt etwa die Single „Worry With You“ – sie startet mit einem feinen Intro, das von Khruangbin-Gitarrist Mark Speer inspiriert zu sein scheint – von einer Fernbeziehung. Carrie Brownstein singt darüber, dass sie endlich einen Platz für ihre Gefühle gefunden hat und sich nun mit ihrer Partnerin darin verlieren will. Auch wenn das vielleicht keine gute Idee ist: „Let’s get lost baby/ And take a wrong turn“. Im Video zum dem munteren Midtempo-Stück sieht man ein Frauenpaar bei seinem mal lustigen, mal beschwerlichen Alltag in einer kleinen Wohnung. Für Notfälle gibt’s Tropfen aus dem Fläschchen mit der Aufschrift „I’m ok. You are not ok“.
Der titelgebende Pfad zum Wohlbefinden ist wendungsreich und steinig. Solche Probleme haben Vögel und Wale nicht. Dafür haben Sleater Kinney die besseren Songs.