Glutkerne
Unser Kolumnist Klaus Brinkbäumer ist Programmdirektor des MDR in Leipzig. Sie erreichen ihn per Mail unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de oder auf Twitter unter @Brinkbaeumer.
Ganz schön aufregend und beängstigend, dass alles sich so permanent und überall ändert. Kinder, gestern noch schmusen wollend, kennen heute die Eltern nicht mehr. Bündnisse zerbrechen und mit ihnen Freundschaften. All die Regeln und all diese Codes, die’s gerade noch zu kennen und zu beherrschen galt: ersetzt, nichts mehr wert. Was aber wird morgen gelten? Und kann es passieren, dass das Morgige besser sein wird als das, was war und ist, konstruktiver, zugleich solidarisch und effektiv?
Zuerst das Kleine: Der Verein Deutsche Sprache hat sich zwar einen noblen Namen geschenkt, was aber Tarnung ist, denn der VDS ist auf die schimpfend spießige Weise unterwegs gegen den „Gender-Wahn“. Eilig schimpfte der Verein auf die Kolleginnen und Kollegen vom ZDF, weil diese in ihrem zeitgeistigen Wahn aus Schauspielern und Kameramännern „Drehende“ gemacht hätten, die nach Rumänien gereist seien: „Drehende für ZDF-Fernsehfilm ‚Der Bär’ in Rumänien“, so stand’s beim ZDF.
Ruhiges Ein- und Ausatmen
Allerdings: In Rumänien sind bloß die Dreharbeiten beendet waren. Drehschluss, Drehende, gar nicht so kompliziert, manchmal soll übrigens Aus- und Einatmen gegen Hyperventilieren helfen.
Nun das Große: Erleben wir eine Politikwende? In der deutschen Spitzenpolitik existieren Wunden, und es sind viele, und es sind offene Wunden. Die meisten unserer Mächtigen sind einst idealistisch gestartet, wollten etwas, träumten von Großem, und das war mehr als die eigene Karriere. Dann kamen die Kompromisse, die Intrigen, die Kränkungen.
In der Politik ist eines anders als im Privatleben und in anderen Berufen: Die Wenigsten können sich befreien, eine Trennung, etwas Neues ist nicht vorgesehen, denn die Partei ist Pakt und Bund, und der bindet lebenslang, und darum kettet die Partei Seehofer und Söder aneinander, Merkel und Schäuble, Merz und Merkel, Nahles und Scholz. Ich kenne wenige Politikerinnen und Politiker, die nicht tief verletzt von irgendetwas sind, die sich nicht verraten fühlen von irgendwem – sie alle machen weiter, denn was sonst soll das Leben bieten außer Einsamkeit?
Nicht zielstrebig, kernig, sondern sinnentleert, zynisch
Wenn ich in diesen Tagen höre, wie Markus Söder nach schadenfroh vollendeter Fledderung Armin Laschets prompt „Geschlossenheit“ von CDU und CSU fordert; wenn ich lese, wie Friedrich Merz die seit Jahrzehnten von ihm mitgeprägte Union zum „insolvenzgefährdeten, schweren politischen Sanierungsfall“ erklärt (und insinuiert, dass er nur einen geeigneten Sanierer kennt); dann wirkt all das wie immer: scheinbar zielstrebig, kernig, in Wahrheit sinnentleert, zynisch.
Als ich die NDR-Dokumentation über „Kevin Kühnert und die SPD“ sah, war da etwas Anderes: Verletzbarkeit, Zweifel, die Antwort „weiß ich auch nicht“ sowie Neugierde und Vertrauen im Austausch mit dem Team, das tatsächlich eines zu sein scheint; und die Tränen beim Abschied von den Jusos.
Nun fängt wohl eine neue Regierung an, und Olaf Scholz kündigt das „größte industrielle Modernisierungsprojekt seit 100 Jahren“ an. Neben ihm stehen Habeck, Baerbock, Lindner, nicken sich zu, lächeln, und wenn sie auseinandergehen, denunzieren sie einander nicht. Da kommt einfach keine SMS. Auch das ist neu.
Von „Zumutungen“, nötig, um „danach gemeinsames Größeres möglich zu machen“, spricht Habeck und wenig später vom „Glutkern“, der Modernisierung einer Gesellschaft. „Glutkern“ ist gleichfalls neu, Poesie in der politischen Sprache. Da scheint nun eine Gruppe am Werk zu sein, die die eigenen Träume und den Idealismus von einst, darum ein Verständnis von Mannschaftsspiel, bewahrt hat. Oder kollektiv wiederentdeckt.