Gitter über dem Nichts

Als die Schriftstellerin Anne Duden 1982 mit dem Erzählband „Übergang“ die literarische Szene betrat, war das Feuilleton irritiert. Die Erzählungen, die allesamt von einer gewaltsam erzwungenen Verstörung eines zumeist weiblichen Körpers handeln, ließen sich nicht wirklich der damals angesagten Betroffenheitsprosa zuordnen. Doch ausgehend von dem wohl meistzitierten Satz dieses Debüts „Mein Gedächtnis ist mein Körper“, erhob die – vorwiegend männliche – Kritik sie in den zweifelhaften Rang einer „Virtuosin des Schmerzes“.

Dieses Label wurde Anne Duden nie wirklich los – obwohl sie ein ästhetisch so radikales wie poetologisch elektrisierendes Werk geschaffen hat, das mit verstörender Provokation neue Sprachdimensionen erobert. Bis heute ist es ein eher schmales Werk: zwei Erzählbände, drei Gedichtbände, drei Essaybände, dazu verstreut publizierte Texte, in den vergangenen Jahren hauptsächlich zur Bildenden Kunst.

Der Titel „Übergang“ blieb programmatisch, für ihr Leben, für ihr Werk. Seit ihren Anfängen verhandelt Duden Wahrnehmungszustände von extremer Intensität, mit seismografischer Genauigkeit. Hellsichtig etwa verlieh sie – die am 1. Januar 1942 und somit 19 Tage vor der Wannsee-Konferenz zur Welt gekommen war – dem Verdrängten der bundesdeutschen Nachkriegsrepublik eine Stimme.

Der individuell erlittene Schmerz ihrer Figuren verwies dabei, auch in ihrem zweiten Buch „Judasschaf“ (1985), stets stellvertretend auf die Nachwehen historischer und gesellschaftlicher Gewalt. Der Tod war ein Meister aus Deutschland.

1973 gründete Anne Duden mit anderen den Rotbuch-Verlag

Das wusste Anne Duden nur zu gut. Geboren in Oldenburg und aufgewachsen in der DDR, siedelte sie 1953 mit der Mutter in den Westen um. Später, in West-Berlin, studiert sie, wird Buchhändlerin, dann Mitarbeiterin im Wagenbach Verlag – und gründet 1973, gemeinsam mit anderen, den Rotbuch-Verlag. 1978 folgt dann ein erneuter Abschied: Anne Duden war nach einem Überfall auf eine Berliner Diskothek schwer verletzt worden.

Fortan lebt sie den größten Teil des Jahres in London, wo sie in Erich Fried einen so unbedingten Freund wie Förderer findet. Das Bild des eigenen, von einer Lanze zertrümmerten Kieferraums bleibt. Doch Duden setzt dem Schock der Versehrtheit die Schrift entgegen: Das Bild vom Heiligen Drachen findet Eingang in ihr Werk; die Kunst wird in ihrer Literatur zur Rahmung, um die Untiefen des menschlichen Daseins zu erkunden.

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1993 vollzieht die Autorin mit „Steinschlag“ den Übergang zur Lyrik. Und findet hier mit ihrer Liebe zur Lakonie, zu Verdichtung und Abstraktion zu einer neuen Höhe des Schreibens. Fortan kreiert sie eine veritable Celan’sche „Daseinssprache“. Kühn überlagert Duden Bezüglichkeiten und Metaphern, um die Sprache und damit das Ich an einen anderen Ort zu transportieren. Es war der spekulative Raum einer durch Aug und Ohr gehenden Rundumwahrnehmung: kathedral, da bodenlos; die Wortkörper nurmehr das einzige Gitter über dem Nichts.

In ihrem Essayband „Zungengewahrsam“ (1999) spricht Anne Duden dann vom „Pfingstkuss“ der Sprache. Sie selbst hat die veritable Auferstehung des Wortes in Literatur vollzogen. Und uns mit einem so tröstlichen wie augenöffnenden Werk beschenkt, das vom Austausch mit den angrenzenden Künsten ebenso lebt wie von einem weit gespannten literarischen Horizont: seien das Paul Celan, Antonin Artaud, Friedrich Hölderlin oder Georges Bataille.

Dieses Werk, in Teilen vergriffen, scheint heute unzeitgemäßer als je. Es endlich wieder als Ganzes zugänglich zu machen, ist eben deshalb überfällig. Anne Dudens 80. Geburtstag am 1. Januar wäre ein würdiger Anlass, das zu ändern.