Endlich Einstein verstehen: Die Künstlerin Annika Kahrs übersetzt Gravitationswellen in Musik
Einstein hat sie schon vor mehr als hundert Jahren vorhergesagt. Nachgewiesen wurden sie erst 2015: Gravitationswellen. Sie entstehen, wenn zwei Schwarze Löcher verschmelzen oder Sterne am Ende ihrer Lebenszeit explodieren. Diese ungeheuren Massekollisionen bringen das Universum in Wallung.
Die Energie, die entsteht, ist so stark, dass Raum und Zeit sich verformen. Die Wellen setzen sich Milliarden von Jahren fort. Wenn sie auf die Erde treffen, sind sie selten so stark, dass man überhaupt etwas messen kann. Es braucht riesige, sehr empfindliche Spezialteleskope, sogenannte Laser-Interferometer, viele Kilometer groß, um die Signale einzufangen. Das Wissenschaftler-Team, dem das erstmals gelang, wurde 2017 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.
Wenn Sterne explodieren
Die in Hamburg und Berlin lebende Künstlerin Annika Kahrs, bekannt für ihre künstlerische Auseinandersetzung mit Klang, hat sich diesem komplexen Forschungsfeld genähert. In Zusammenarbeit mit Wissenschaftler:innen, Musiker:innen aus Los Angeles und dem Hamburger Komponisten Louis d’Heudières ließ sie diese schwer zu erfassenden Wellen in Orchestermusik übersetzen.
Im Kunstraum der Schering Stiftung, der sich an der Schnittstelle zur Wissenschaft bewegt, geht es erneut um physikalische Phänomene, die weit außerhalb der Vorstellungskraft des Menschen liegen. Ähnlich wie 2022, als die Künstlerin Libby Heaney den Besucher:innen einen Einblick ins Innere eines Quantencomputers verschaffte.
Bei Kahrs wird es noch ein bisschen poetischer. Jetzt lauschen wir dem All – vielleicht sogar einem urknallähnlichen Ereignis? Was die Wissenschaft von den Gravitationswellen messen kann, ist ein ultrakurzer „Chirp“, wie sie es nennen, ein Ton, der sich am Ende nach oben zuspitzt. Erstmal müssen elektromagnetische in akustische Signale übersetzt werden, mit denen dann der Komponist arbeitet und am Ende die Musiker:innen. Diesen Prozess, die vielfachen Übersetzungen, hat Annika Kahrs in ihrem Film „Gravity’s Tune“ festgehalten.
Vermittler zwischen den Welten
Eigentlich hatte die Künstlerin den Caltech-Astrophysiker Keith Thorn kontaktiert, weil er einer der führenden Spezialisten für schwarze Löcher ist. Dann merkte sie, was für ein großartiger Geschichtenerzähler der Mann ist. Und macht ihn zur zentralen Figur in ihrem Film. Thorn steht im Gravitational-Wave Observatory, dem Ligo, vor diversen Bildschirmen und erklärt die Forschung an Gravitationswellen. Und man sieht ihn im Frack vor den Orchestermusiker:innen, bei derselben Erzählung.
Seine Worte fließen vom konventionellen Konzertsaal zum „leisesten Konzertsaal der Welt“, wie man die Riesenteleskope auch nennt, weil sie die Wellen eben nur wahrnehmen können, wenn man möglichst viele Störgeräusche herausfiltert. Deshalb steht das Ligo auch in der Pampa in Louisiana.
Der 25 Minuten lange Film zeigt Forschungsräume und Wissenschaftler, die dort vor ihren Monitoren sitzen, vor jeder Menge blinkender Kurven. Man sieht ihre Gesichter, ihre T-Shirts. In anderen Szenen sitzt man mit den jungen Orchestermusiker:innen im holzvertäfelten Konzertsaal und sieht zu, wie sie mit Violine, Cello, Flöte und Schlagzeug die Partitur spielen, ohne Vorstellung davon, wie eine Gravitationswelle klingen soll, aber mit bewundernswerter Neugier. Auch hier erfasst die Kamera Kleidung, persönliche Accessoires und Frisuren. Die Ehrfurcht, die man Räumen von Spitzenforschung und Hochkultur entgegenbringen kann, löst die Künstlerin in den Niederungen von Bürostuhl und Fussel aufm T-Shirt auf.
Ihren Film muss man eigentlich mehrmals sehen. Erstmal, um zu verstehen, was Gravitationswellen eigentlich sind. Und dann, um die Ungeheuerlichkeit wahrzunehmen, dass ein winziges Signal, unendlich vergrößert, übersetzt und verunklart wird. Die Annäherung einer Annäherung. Und trotzdem ist es Musik aus dem All. Ein kurzes Hurz, das uns an die unendlichen Weiten des Universums erinnert.