Eine Hymne auf das Leben

Berlins Kultur hat in den vergangenen Wochen einige Solidaritätsabende für die in ihrer Existenz bedrohte Ukraine organisiert. Es ist auch ein Mittel, mit der eigenen Ohnmacht umzugehen, das Unbegreifliche auszuhalten und helfend aktiv zu werden. So zeigt das HAU jetzt Theater aus Belarus, einem bald schon wieder in Vergessenheit geratenen Schauplatz von Gewalt und Unterdrückung.
Was Iana Salenko mit „Ballet for Life“ auf die Beine gestellt hat, erreicht eine noch andere Dimension. Mit über 1200 Menschen ist der Admiralspalast voll besetzt, und über die Bühne geht, in wenigen Tagen organisiert, ein Programm mit europäischen Spitzentänzerinnen und Tänzern über die Bühne, angeführt von der aus der Ukraine stammenden Ersten Solistin des Staatsballets Berlin.
Iana Salenko eröffnet die Gala mit einem Stück, das Arshak Ghalumyan für diesen historischen Moment choreografierte. Ghalumyan und Salenko tanzen „Empty Hug“ – leere Umarmung. Gesten der Sehnsucht. Sie gelten einem Menschen, der nicht da ist, vielleicht nicht mehr lebt. Es ist zugleich eine ausgestreckte Hand in das Publikum.

Es beginnt mit der Nationalhymne

An diesem Donnerstagabend, zwei Monate nach Beginn der verheerenden russischen Angriffe auf das Nachbarland, geschehen Dinge, die man aus unserem gut behüteten Kulturbetrieb nicht kennt. Aufgeführt wird zu Beginn die Nationalhymne der Ukraine, von dem Opernsänger Viktor Rud und Maria Viksnina. Sie zupft die Torban, eine vielsaitige Riesenlaute. Die Masterstudentin der UdK gilt als einzige Musikerin weltweit, die dieses osteuropäische Instrument klassisch beherrscht; es wurde früher auch in Russland, Polen und im Baltikum gespielt. Die Besucher haben sich erhoben, zur Nationalhymne laufen Ansichten von Kiew über die Leinwand, eine riesige blaugelbe Fahne flattert im Wind.

Auf der Bühne, neben dem Rednerpult, stehen dicht beieinander die Flaggen der Ukraine und der Bundespublik. Langer Applaus, als Kiews Botschafter Andrij Melnyk den Saal betritt. Er ist Schirmherr des „Ballet for Life“ und überbringt Grüße der ukrainischen First Lady Olena Selenska. Da ist die Rede von der Kraft der Musik, wenn Worte fehlen. Und von der Kunst, die das Gegenteil sei von Krieg: „Kunst handelt von Leben.“

In Mariupol spielten sie noch Tschechow

Melnyk hat eine ruhige Art, harte Dinge auszusprechen. Er erinnert an das Theater in Mariupol, dort starben durch russischen Beschuss Hunderte Zivilisten. Noch Mitte Februar, sagt der Botschafter, stand dort ein Stück von Tschechow auf dem Spielplan. Dostojewski, Tolstoi, russische Literatur war im Theater Mariupol an der Tagesordnung, selbstverständlich. Er nennt auch Vladimir Nabokov, der vor der Oktoberrevolution nach Deutschland floh und später über Frankreich in die USA emigrierte. Ein Weg, den viele Ukrainer jetzt gehen müssen, ins Exil.
Russland zerstört seine eigene Kultur, sagt Melnyk: Russland hat sich als große Kulturnation verabschiedet. Und man könnte hinzufügen: Russland hat die Ballett-Tradition gepflegt wie kaum ein anderes Land.
Dann bittet Oleksandr Shpak, der Produzent der Benefiz-Gala, um eine Schweigeminute für die Kriegsopfer in der Ukraine. Und wieder erhebt sich das Publikum. Wer solches Pathos nicht kennt aus unserem coolen, oft zynischen Kulturalltag, begreift hier schnell. Man muss sich einstellen auf eine andere Welt, ganz gleich, ob der Bundeskanzer eine Zeitenwende ausruft oder nicht. Sie ist da.

Ernst und Entertainment

Es hilft, dass der Tanz eine internationale Sprache spricht. Und es ist eine angenehme Überraschung, wie zeitgemäß sich das Ballett hier präsentiert. Es zeigt sich in der Arbeit des Choreographen Christian Spuck vom Ballett Zürich, er wird demnächst das Staatsballett Berlin übernehmen. Es zeigt sich in dem Solo „Morgendämmerung“ mit Kateryna Shalkina, vormals Erste Solistin beim Béjart Ballet Lausanne: ein kurzes Stück, wie die meisten Darbietungen beim „Ballet for Life“, und heftig, intensiv. Eine junge Frau wacht auf zum Geheul der Sirenen, ihr Körper versucht sich auf die neue Situation, die Gefahr einzustellen.
Highlights, hoch gestimmt. Iana Salenko hat neben Gustav-Mahler-Abgründen und Monterverdi-Tränen Entertainer-Nummern ausgewählt wie den Pas de deux „La Esmeralda“ mit Yolanda Correa vom Staatsballet Berlin und Young Gyu Choi vom Dutch National Ballet: spanisches Feuer, zirkusreif mit weiten Sprüngen und Spitzentanzakrobatik. Das „ABC“ der Tanzwelt performt Shori Yamamoto (Gauthier Dance/Theaterhaus Stuttgart) mit umwerfender Komik und charmanter Subversion: Ballett ist auch eine Welt der Befehle und Vorschriften. Aber Yamamoto ist schneller.
Und Iana Salenko setzt einen Schlusspunkt, der wenig Hoffnung macht. Mit blonder Perücke, in Uniform, schwingt sie über die Bühne, salutiert zu Marlene Dietrichs Lied „In den Kasernen“. Das hallt lange nach. „Auf Menschen Brüder, da schießen sie./So war ‘s schon immer und endet nie.“