Ein Kind wird kommen
Einen Film zu machen heißt, eine Welt zu erschaffen. Leos Carax sitzt an den Reglern, das Filmorchester Babelsberg stimmt die Instrumente, der Chor singt „It’s time to start“, Adam Driver steigt aufs Motorrad, und los geht’s. Atmen Sie noch einmal tief ein, hatte der Regisseur vorher aus dem Off geraten, bevor Sie den Atem anhalten.
Carax erzählt gerne vom Kino selbst, diesem fantastischen, fantasmagorischen Universum. In „Holy Motors“, seinem letzten, neun Jahre zurückliegenden Werk, stieg er anfangs durch eine Tapetentür in einen Kinosaal, wo die ältesten Bewegtbilder der Filmgeschichte über die Leinwand flimmerten.
Diesmal nimmt er die Musik zu Hilfe, erfüllt sich seinen alten Traum eines veritablen Musikfilms und lässt zu Beginn ganz kurz die erste, 150 Jahre alte Aufzeichnung einer menschlichen Stimme erklingen. Eine Frau singt ein Schlaflied. Was dann folgt, ist mehr als ein Musical: eine romantische Glam-Rock-Oper mit Liebesduetten, Sterbe-Arien, griechischem Chor und großer Besetzung. So morbide-melancholisch und glühend vor Leben, wie Oper nur sein kann. Der Plot und die 40 Songs stammen von den Sparks-Brüdern Ron und Russell Mael.
Wie immer bei dem französischen Ausnahmeregisseur, der sich mit „Die Liebenden von Pont-Neuf“ einen Platz im Kino-Olymp gesichert hat und mit „Annette“ seinen ersten englischsprachigen Film vorlegt, geht es um die Unfassbarkeit der Liebe und die Allgegenwart des Todes. Um toxische Männlichkeit, Celebrity-Kult, die Wucht der Wirklichkeit, die Magie der Künste und die Gewalt, die dem Schaffensprozess innewohnt.
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Die Story ist simpel, wie öfter bei Opern. Henry McHenry, der Comedian (Adam Driver, zuletzt in “House of Gucci” zu sehen) liebt Ann Desfranoux, die Operndiva (Marion Cotillard). Die Liaison von U- und E-Musik: Er bringt die Menschen mit mörderischen Pointen zum Lachen, sie bringt sie zum Weinen, wenn sie allabendlich auf der Bühne stirbt. Die beiden bekommen ein Kind, Annette, eine Holzpuppe mit rührend ungelenker Gestik. Anns Stern steigt in der Publikumsgunst, während bei Henry der Frust steigt, als die Fans sich von ihm abzuwenden beginnen.
Auf einem Jacht-Urlaub wird die Kleinfamilie von einem Sturm heimgesucht – und Henry bleibt allein mit Annette zurück. Alsbald beginnt das Baby zu singen, wird zum Idol für die Massen, geht viral.Bis Annette bei ihrem ultimativen Auftritt im Hyper Bowl Stadion vor Zigtausenden die Mutter rächt und Henry zur Rechenschaft zieht. Carax ist selbst seit einigen Jahren Vater, bereits in „Holy Motors“ baute er eine Vater-Tochter-Episode ein. Das Vater-Tochter-Finale mit einer verblüffenden Metamorphose von Baby Annette hat er dem Script der Mael-Brüder hinzugefügt.
Lachen, Sterben, Töten, Weiterleben. Der Witz, sagt Henry einmal, ist die einzige Möglichkeit, die Wahrheit zu sagen, ohne gekillt zu werden. Adam Driver spielt den singenden Entertainer als unwiderstehlichen Unsympathen, selbstquälerisch, mürrisch, viril. Wie ein Boxer tritt er im grünen Bademantel aufs Podium, schlenkert sich das Mikrofonkabel um den Hals, als sei’s ein Galgenstrick, attackiert seine Fans und nennt sich „The Ape of God“. Was unterscheidet uns Menschen von Affen? Auch das ein Refrain in Carax’ Oeuvre.
Das Verrückte an „Annette“ ist neben der singenden Marionette und gesungenem Sex vor allem die Virtuosität, mit der Carax die Klassiker- und Mythenschleuder anwirft und sich die Genres anverwandelt. Wobei er trotz der Schwere des Schuld-und-Sühne-Stoffs leichthändig mit ihnen spielt. Es ist immer etwas Kindliches in seinem filmheiligen Ernst. Allein die teils urkomischen Chöre, seien es Henrys Frage-Antwort-Couplets mit dem Publikum, die Paparazzi-Aufregung rund um das Traumpaar, der Hebammenchor bei Annettes Geburt oder später die Gegengesänge der Polizei und des wütenden Mobs.
Leos Carax ist ein meisterlicher Verwirrkünstler
Oder das unaufhörliche Changieren von Märchenwelt, hochartifizieller Kulisse und greller Gegenwart. Hier das verwunschene Waldhaus von Henry und Ann, die erlesene Farbdramaturgie (Henry in Grün und Braun, Ann in Rot und Gelb) samt edlem Faltenwurf und ausgefeilter Lichtdramaturgie, da der Kitsch und das Pathos von Verdi, Puccini und Co., dort die Shownews, in denen sechs Frauen MeToo-Vorwürfe gegen den Comedian erheben – oder tun sie das nur im Alptraum der Sopranistin?
Carax, der in Cannes für „Annette“ den Regiepreis erhielt, ist ein meisterlicher Verwirrkünstler. Gerade noch hat er sich einen Spaß daraus gemacht, das Lachen und das Sterben im Totkitzeln miteinander zu versöhnen, um im nächsten Moment Nachtmahre heraufzubeschwören und im übernächsten dem Flackern der Bilder zu huldigen, dem Kino an sich. Baby Annette erhebt seine übernatürliche Stimme immer nur im Mondschein und im Glanz der Sterne. Oder dann, wenn das Licht der rotierenden Nachthimmel-Lampe sein Holzgesicht streift.
[Ab Donnerstag in 13 Berliner Kinos, in den meisten läuft die OmU-Version.)
Und doch regt sich irgendwann Unmut. Dass die meisten Opernklassiker das Opfer-Täter-Stereotyp von sterbender Frau und mordendem Mann bedienen, ist Carax nach eigener Auskunft nur zu bewusst. Aber warum wiederholt er das Muster, stilisiert und übersteigert es seinerseits geradezu selbstquälerisch? Warum darf Marion Cotillard nur blass und schön, ätherisch und gefährdet sein, während Henrys Charakter Komplexität und Widersprüchlichkeit aufweist, auch der seines Nebenbuhlers, Simon Helberg als Dirigent? Alles nur, damit das Marionettenmädchen eine bessere Zukunft verheißen kann, nach dem Motto, wir Alten können nun mal nicht aus unserer Haut?
Ein Kind wird kommen, ein Wunder von Kind. Kein Zufall, dass „Annette“ in Deutschland kurz vor Weihnachten in die Kinos kommt.