Die Verbrechen von Deutsch-Neuguinea
Das Boot, um das es hier geht, wurde auf einer winzigen, nur sechs Quadratkilometer großen Insel aus dem Holz des Brotfruchtbaumes gebaut. Luf, der Ort seiner Entstehung, liegt auf dem Atoll der Hermit-Inseln am Rande des Bismarck-Archipels in der Südsee und galt bis 1914 als „Schutzgebiet“ Deutsch-Neuguinea. Das Boot ist 15 Meter lang, hat zwei Maste und Segel aus Palmblattstreifen. Jahrzehntelang war es der Hingucker im Ethnologischen Museum in Dahlem. Bald soll es im Humboldt-Forum gezeigt werden. Es ist bunt bemalt, mit kunstvollen Schnitzereien verziert, ohne einen einzigen Nagel zusammengefügt. Das Volk, das es hergestellt hat, gibt es nicht mehr.
Der Historiker Götz Aly, bisher bekannt für seine Bücher zum Holocaust und Nationalsozialismus, führt in seinem Buch „Das Prachtboot“ (S. Fischer Verlag, 240 S., 21 Euro) den Beweis, dass das deutsche Kaiserreich als Kolonialmacht sehr viel dazu beigetragen hat, die Bewohner Lufs auszurotten. Und das Ethnologische Museum, das im Herbst seine Präsentation im Humboldt-Forum eröffnen will mit dem Boot in einem eigenen Saal, ist schon wieder in Erklärungsnot. Das Boot rückt mit Alys Buch ins Zentrum der Debatte um die deutsche Kolonialvergangenheit, die im Zusammenhang mit den Benin-Bronzen endlich in Bewegung gekommen zu sein schien.
Götz Alys Buch befeuert die Debatte
„Die deutschen Eindringlinge begingen in Papua-Neuguinea ungezählte Gewaltverbrechen, doch ruinierten sie nur wenige Orte so gründlich wie die winzige Insel Luf“, schreibt Aly am Anfang seines Buches. Er lässt von den ersten Seiten an keinen Zweifel daran: Die deutsche Kolonialgeschichte in der Südsee ist eine Geschichte von Gewalt, Mord, Vergewaltigung und Raub. Dass Aly so tief in die für ihn neue Materie eingestiegen ist, hat auch mit seiner Familiengeschichte zu tun: Gottlob Johannes Aly, ein Urgroßonkel des Autors, war Militärgeistlicher in der Kaiserlichen Kriegsmarine und an der kolonialen Unterwerfung der Inselgruppe beteiligt.
Aly führt aus, dass das „Prachtboot“ den Bewohnern Lufs nicht einvernehmlich abgekauft worden ist; eine Erzählung, die auch das Ethnologische Museum in den vergangenen Jahrzehnten genutzt hat. Die Texte, die vor 1954 über das Luf-Boot veröffentlicht worden seien, lieferten jedoch keine Belege für eine Erwerbung, so Aly. Auch die Erzählung, dass die Lufiten wegen eines „Bevölkerungsrückgangs“ auf ihrer Insel ohnehin nicht mehr über genug Männer verfügten, um das Segelboot zu nutzen, ja, dass sie sich gar freiwillig zum Aussterben entschlossen hätten, ist eine Mär, die die schrecklichen Tatsachen wohl etwas annehmbarer machen soll.
Noch 2018, als das Boot in einer spektakulären Aktion vom Museumsstandort Dahlem nach Mitte ins Humboldt-Forum transportiert wurde, zitierte Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, diese Legende. Und selbst jetzt noch: „Aufgrund von Hinweisen in den vorhandenen europäischen Quellen sei ein Tausch in beiderlei Einverständnis nicht gänzlich auszuschließen. Die Forschungen dazu seien keineswegs abgeschlossen“, heißt es in einer Stellungnahme des Ethnologischen Museums.
Strafexpeditionen auf den Inseln
Aly schildert in seinem erschütternden Buch, wie die wirtschaftlichen Interessen in den Kolonialgebieten mit staatlicher Macht und exekutiven Rechten verquickt wurden. Er beschreibt, wie die Inseln in der Südsee auf Ethnografica regelrecht abgegrast wurden. Er bringt Beispiele für das brutale, rücksichtslose Verhalten der Kolonialbeamten und deren Dünkel. Er beschreibt die militärische Gewalt, die in Form von Strafexpeditionen beim Reichskanzler Bismarck angefordert wurde, wenn die lokale Bevölkerung nicht spurte. Beim Massaker auf Luf an Weihnachten 1882 wurden nicht nur die Hälfte der Inselbewohner umgebracht, ihre Kanus und Hütten zerstört und alles abgebrannt, die Aktion ging auch mit einem massiven Kunstraub einher.
Die Beutestücke landeten danach auch im 1886 eröffneten Völkerkundemuseum in Berlin, dem heutigen Ethnologischen Museum. Das entnimmt Aly den Quellen des Museums. All das ist den dortigen Experten und Kuratoren bekannt.
Ausführlich beschreibt Aly die Rolle der in Hamburg ansässigen Handelsfirma Hernsheim & Co, die in der Südsee Kokosplantagen betrieb und mit Kopra, dem getrockneten Fruchtfleisch der Kokosnuss, handelte. Deren späterer Firmenchef Max Thiel war es, der sich das letzte erbaute Luf-Boot um 1902 unter den Nagel riss, es dann über Felix von Luschan, den damalige Kustos des Berliner Völkerkundemuseums und ausgemachten Bootsfan, nach Berlin verkaufte.
Brutale Kolonialmacht
Aly nutzt öffentlich zugängliche Quellen, amtliche Informationsblätter, Inventarbücher, Ausstellungskataloge und wissenschaftliche Abhandlungen, er lobt vor allem die Autoren aus der Pazifikregion, die sich der Erforschung des deutschen Kolonialismus in der Südsee angenommen haben, während es aus Deutschland nur wenig Werke gebe, die sich kritisch mit der Südsee-Kolonialzeit auseinandersetzten; stattdessen fand er jede Menge „Verherrlichungen der Kaiserlichen Kriegsmarine“.
„Das Prachtboot“ ist eine Provenienzrecherche, wie man sie vom Ethnologischen Museum selbst hätte erwarten können, vor allem vor dem Umzug ins Humboldt-Forum, das ja für den „Dialog der Kulturen“ stehen will. Schon die „wohlklingenden Ersatznamen“, hinter denen sich die Völkerkundemuseen Europas heute verstecken, so Aly, zeigen deren Dilemma. Das Münchner Haus heißt „Museum Fünf Kontinente“, in Wien nennt man sich „Weltmuseum“, in Frankfurt am Main „Museum der Weltkulturen“ und in Berlin eben „Humboldt Forum“.
Alle haben das gleiche Problem. Wenn jetzt immer mehr herausgearbeitet wird, wie brutal auch die deutsche Kolonialmacht vorgegangen ist, kann kaum etwas, das zu dieser Zeit in Afrika, Südamerika und Asien mitgenommen, erworben, abtransportiert wurde, losgelöst von der kolonialen Gewaltherrschaft betrachtet werden. Ethnologie und Kolonialismus hängen zusammen.
Es ist ein Dominoeffekt, den man jetzt auch für die Berliner Sammlungen beobachten kann. Erst kamen Schädel und Gebeine aus Namibia und Neuseeland in den Blick, dann ging es um geraubte Grabbeigaben aus Alaska, dann um die BeninBronzen, jetzt um das Luf-Boot. Weitere Stücke werden folgen. Die Erwerbungsgeschichten lassen sich nicht mehr unter einer „bleiernen Decke“ halten, wie Bénédicte Savoy, Professorin für Kunstgeschichte an der TU Berlin, es als Mitglied der Expertenkommission des HumboldtForums bereits 2017 formulierte, bevor sie das Gremium verließ.
“Mahnmal des Schreckens”
Als Reaktion auf Alys Buch räumte der Direktor des Berliner Ethnologischen Museums Lars-Christian Koch in einem Interview mit Deutschlandradio Kultur Versäumnisse seines Hauses ein. In einem Statement gegenüber dem Tagesspiegel heißt es nun: „Herr Aly ist nicht die einzige Person, die zu dem Thema geforscht hat. … Seit Sommer 2020 forschen wir selbst intensiv zum Luf-Boot und zu den Beständen, die aus sog. Strafkommandos ins Museum gelangt sind.“
Immerhin soll das Boot im HumboldtForum wohl eine doppelte, spannungsreiche Botschaft erzählen dürfen: Es soll als „Mahnmal der Schrecken der deutschen Kolonialzeit und auch in seiner Bedeutung als identitätsstiftendes Werk der Bootsbaukunst gezeigt werden“, erklärt das Museum.
Die rund 65 000 Südseeobjekte, die zwischen 1880 und 1914 in die deutsche Hauptstadt „verschleppt“ wurden, bezeichnet Götz Aly am Ende seines bestürzenden Buches als „Monument der Schande“. Die Stücke müssen im Humboldt-Forum als Raubkunst kenntlich gemacht werden, fordert er. Die Ethnologischen Museen brauchen aber wohl grundsätzlich ein neues Selbstverständnis, stolzes Besitztum kann es nicht mehr sein.