Die Niederlande im Achtelfinale gegen die USA: Louis van Gaal und seine Obsession für Torhüter
Thomas Kraft wusste nicht so recht, wie ihm geschah. Zumindest ließ sein Gesichtsausdruck darauf schließen: Krafts Mimik schwankte zwischen Erstaunen und Entsetzen. Ob er nicht etwas zum anstehenden Geburtstag von Uli Hoeneß sagen könne, war der damalige Torhüter von Hertha BSC gefragt worden.
Die Begebenheit liegt schon ein paar Jahre zurück. Und noch ein paar Jahre zuvor – das muss man dazu wissen – hatte Uli Hoeneß, damals Präsident des FC Bayern München, geätzt, dass mit dem Wechsel auf der Torhüterposition von Jörg Butt zu Thomas Kraft „die Scheiße“ überhaupt erst losgegangen sei, „auf gut Deutsch gesagt“.
Das war nicht besonders nett von Uli Hoeneß, zumal er gar nicht Kraft persönlich gemeint hatte, sondern eigentlich Louis van Gaal, den Trainer der Bayern. Der Holländer hatte sich nicht nur in den Kopf gesetzt, Thomas Kraft, den Torhüter aus dem eigenen Nachwuchs, groß rauszubringen; er hatte damit auch den Wunsch des Vereins torpediert, einen gewissen Manuel Neuer zu verpflichten. Neuer brauche man nicht, hatte van Gaal seine Vorgesetzten wissen lassen. Man habe doch Thomas Kraft.
Die Sache ist dann nicht gut ausgegangen. Nicht für Thomas Kraft, der schließlich zu Hertha nach Berlin wechselte. Und auch nicht für Louis van Gaal, der schon bald kein Trainer mehr bei den Bayern war.
Louis van Gaal und die Torhüter: Das war schon immer eine besondere Geschichte. Damals bei den Bayern genauso wie bei der WM 2014, als er zum Elfmeterschießen gegen Costa Rica Tim Krul einwechselte. Oder wie jetzt wieder in Katar, wo van Gaals Holländer an diesem Samstag (16 Uhr) im Achtelfinale auf die USA treffen. Im Tor wird dann erneut Andries Noppert stehen, bis vor kurzem noch ein Nobody wie einst Thomas Kraft.
Das Achtelfinale gegen die USA ist das vierte Länderspiel für den 28-Jährigen, der vor knapp zwei Wochen, beim WM-Auftakt der Holländer gegen Senegal, sein Debüt in der holländischen Elftal gefeiert hat. Inzwischen wird Noppert von der Zeitung „De Volkskrant“ schon als „der angehende Kultheld“ gefeiert. Weil er immer noch so redet, wie es ihm gerade in den Sinn kommt und er ein bisschen wirkt wie ein Amateurfußballer, der es plötzlich in die Nationalmannschaft geschafft hat.
Logisch ist das nicht.
Andries Noppert über seinen Aufstieg zur Nummer eins der Niederlande
Hollands neue Nummer eins hat in keiner U-Nationalmannschaft gespielt, er hat kein Europapokalspiel bestritten und bringt die Erfahrung von gerade mal 32 Erstligaeinsätzen mit. Noch vor einem Jahr saß Noppert bei Go Ahead Eagles nur auf der Bank. Vor zwei Jahren hatte er nicht einmal einen Klub.
Seine Eltern rieten ihm damals, sich doch lieber einen richtigen Beruf zu suchen. „Das ist keine normale Karriere“, sagt der frühere Bremer Davy Klaassen, der mit Noppert in Katar Weltmeister werden will.
Aber was ist schon normal bei Louis van Gaal? Bei der WM verzichtet er nicht nur auf Jasper Cillessen, der früher für Ajax Amsterdam gespielt hat, für den FC Barcelona und in der niederländischen Öffentlichkeit das größte Standing besitzt.
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Länderspiele hatte Andries Noppert vor der WM in Katar bestritten.
Er verzichtet auch auf Mark Flekken vom SC Freiburg, den der Bondscoach noch im Frühjahr als echten van-Gaal-Keeper bezeichnet hatte. Stattdessen hat er neben Noppert den 39 Jahre alten Remko Pasver von Ajax Amsterdam nominiert, der Ende September sein erstes Länderspiel bestritten hat, und Justin Bijlow von Feyenoord Rotterdam.
Bijlow galt lange als Hollands künftige Nummer eins. Mit Feyenoord stand er im Frühjahr im Finale der Conference League und aktuell an der Tabellenspitze der Eredivisie. Aber van Gaal war von den Leistungen des Torhüters zuletzt nicht vollauf überzeugt. Von den drei Keepern für Katar, so sagte er bei Präsentation seines Kaders, sei eigentlich nur Noppert in Form.
Van Gaal hat lange ein Geheimnis daraus gemacht, wer bei der WM seine Nummer eins sein wird und dann tatsächlich wahrgemacht, was viele längst vermutet hatten – gerade weil Noppert die unmöglichste aller Varianten zu sein schien. „Ich hätte nie gedacht, dass das möglich wäre. Aber wenn es bei jemandem passieren kann, dann bei ihm“, sagte Noppert, der beim SC Heerenveen, dem Tabellenachten der Ehrendivison, unter Vertrag steht. „Logisch ist das nicht.“
Was Torhüter betrifft, hat Hollands Bondscoach fast schon eine Obsession. Wenn er von seiner taktischen Formation spricht, zählt er den Torhüter immer mit. Aus dem 5-3-2-System wird bei ihm ein 1-5-3-2.
Das liegt auch daran, dass der 71-Jährige sehr spezielle Vorstellungen vom Spiel seiner Keeper hat. „Wenn du einen Ball hältst, heißt das nicht, dass du ein guter Torhüter bist“, sagt er.
Sein Ideal ist immer noch Edwin van der Sar, den van Gaal mit 19 zur Nummer eins bei Ajax Amsterdam machte – und der das moderne Torwartspiel geprägt hat wie kaum ein zweiter. Van der Sar war der erste mitspielende Torhüter der Neuzeit, ein Torspieler, wie ihn van Gaals Torwarttrainer Frans Hoek nennt.
Wie sehr Andries Noppert, mit 2,03 Metern der größte Spieler bei der WM in Katar, diesem Ideal nahekommt, ist noch nicht abschließend geklärt. Bisher hat er wenig zu tun bekommen. Bei seinem Debüt gegen Senegal dauerte es mehr als eine Stunde, bis er erstmals eingreifen musste. Ein Gegentor hat er in der Gruppenphase kassiert, den Ausgleich der Ecuadorianer zum 1:1-Endstand.
Die Aufregung um die Torhüterposition hat sich in den Niederlanden weitgehend gelegt. Das liegt aber nicht daran, dass Andries Noppert alle Zweifler bereits vollends überzeugt hat. Es liegt daran, dass die Zweifel an den Feldspielern nach den bisherigen, wenig inspirierenden Auftritten inzwischen deutlich größer sind.
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