Die Medizin ist auch das Gift
Es war unvorstellbar, aber nicht unwahrscheinlich: der Ausbruch einer Seuche in einer Millionenstadt wie Wuhan, die sich über die Verkehrswege des Düsenjetzeitalters so schnell ausbreitet, dass tägliche Updates kaum genügen, um den Wandel der Lage zu beschreiben. Im deutschen Herbst mag man trotz der viel zu niedrigen Impfquote mit dem trügerischen Gefühl einer gewissen Sicherheit auf das Geschehen blicken. Aber die Pandemie ist noch lange nicht ausgestanden, so wenig wie ihre finanziellen Folgen. Das liegt nicht allein an der Gefährlichkeit von Sars-Cov-2. Es liegt vor allem an der Reaktion der Weltgemeinschaft. So schnell wurde die Wirtschaft noch niemals lahmgelegt, und vor allem nicht so absichtsvoll.
Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze, Professor an der New Yorker Columbia University, saß eigentlich an einem anderen Projekt. Nach „Crashed“, seiner Studie über die Weltwirtschaftskrise 2008, plante er ein Buch über den Green New Deal und die Geschichte der Energiepolitik seit den 1970er Jahren. Er entschied sich, so schildert er es im Vorwort, über die aktuelle Lage zu schreiben. „Welt im Lockdown. Die globale Krise und ihre Folgen“ heißt das ebenso umfangreiche wie geistesgegenwärtige Buch.
[Adam Tooze: Welt im Lockdown. Die globale Krise und ihre Folgen. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. Verlag C.H. Beck, München 2021. 408 Seiten, 26,95 €.]
Sie ist fast zeitgleich mit dem amerikanischen Original (Shutdown: How Covid Shook the World’s Economy) erschienen, ein zeitgenössisches Werk von ungewöhnlicher Brillanz und Sprengkraft, vorgetragen im Duktus großer Nüchternheit.
Schritte zu einer multipolaren Weltwirtschaft
Der französische Komplexitätstheoretiker Edgar Morin nannte es „Polykrise“, dass sich in der „Risikogesellschaft“ der „zweiten Moderne“, die der Soziologe Ulrich Beck 1986 noch vor der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl diagnostiziert hatte, mehrere Krisen überlagern und verstärken können. Der Blick des in New York lebenden Briten richtet sich auch jenseits der Seuche nach China. Im Aufstieg Chinas und seinem Projekt der „Neuen Seidenstraße“ sieht er einen Schritt auf dem Weg zu einer „multipolaren Weltwirtschaft“.
Bereits die Obama-Administration hat ihre Aufmerksamkeit in den indopazifischen Raum gerichtet. Chinas Staatskapitalismus spielt als Produktionsort, Zulieferer und Abnahmemarkt eine globale Rolle mit wachsendem Führungsanspruch. Dort laufen die Fäden der neuen Klima-Technologien zusammen. Mitten in der Pandemie überraschte Xi auf der digitalen UN-Generalversammlung am 22. September mit der Ankündigung, Klimaneutralität bis 2060 anzustreben. Das brachte die USA und Europa in Zugzwang.
Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf dem Jahr 2020, beginnend mit Xi Jinpings öffentlichem Eingeständnis des Covid-19-Ausbruchs am 20. Januar 2020, bis zur Amtseinführung Joe Bidens am 20. Januar 2021. Adam Tooze beschreibt die Prozesse sowohl chronologisch, teilweise in Tagesschritten, insbesondere im kritischen Monat März, mit den jeweiligen Maßnahmen der verschiedenen Regierungen und Zentralbanken, als auch in der Tiefenstruktur. Dabei erzählt er anschaulich genug, um keine Abstriche beim intellektuellen Niveau machen zu müssen, wenn es um die Mechanismen einer weit über das normale Maß hinausgehenden Lenkung der Geld- und Fiskalpolitik geht.
Verschmelzung von Geld- und Fiskalpolitik
Vor allem die Rolle der Zentralbanken hat sich in den Krisenjahren seit 2008 geändert. Eigentlich sollen sie die Inflation bekämpfen. Als sich die Kapitalmärkte während der Pandemie unorthodox verhielten und der fallende Aktienkurs nicht zum steigenden Kurs von Staatsanleihen führte, wurde die „Verschmelzung“ von Geld- und Fiskalpolitik noch enger. Alle wollten Bargeld und gefährdeten damit, so Tooze, die Funktion amerikanischer Staatsanleihen. Sie gelten üblicherweise als sichere Vermögenswerte, weil so viele von ihnen auf dem Markt sind, dass man sie jederzeit ohne Wertverlust verkaufen kann.
In einer globalen Krise, in der zu viele gleichzeitig verkaufen wollen, funktioniert das nicht mehr. Die Fed sah sich gezwungen, Geld in den Markt zu pumpen, um Staatsanleihen zu stabilisieren. Was es bedeutet hätte, wenn der US-Treasury-Markt zusammengebrochen wäre, mag man sich nicht ausmalen. Im März begannen alle Zentralbanken, auch die EZB, die Bank of Japan und die Bank of England, den Markt mit Anleihekäufen zu stabilisieren. Aber was hat es für Folgen, wenn „epische Staatsdefizite“ damit finanziert werden, „dass ein Zweig der Regierung, die Zentralbank, die von einem anderen Zweig der Regierung, dem Finanzministerium, ausgegebenen Schulden kaufte“?
Die ganze Lage ist janusköpfig, so beschreibt sie auch Tooze. Einerseits haben die Krisen der letzten Jahre gezeigt, dass demokratische Staaten über die Instrumente verfügen, um „Kontrolle über die Wirtschaft auszuüben“. Es gibt also legitime Möglichkeiten, die Wirtschaft in die Richtung von sozial- oder klimapolitisch erwünschten Maßnahmen zu lenken. Andererseits hat die Stabilisierung des Geldmarkts zu einem exorbitanten Anstieg des Reichtums der ohnehin Reichen geführt.
Steigendes Vermögen der Milliardäre
Weltweit sei das Vermögen der Milliardäre im Jahr 2020 um 1, 9 Billionen Dollar gestiegen, schreibt Tooze. Zum Vergleich: Die offizielle Website der EU beziffert die Summe des Aufbaupakets NextGenerationEU und des Siebenjahreshaushalts der EU auf 1,8 Billionen Euro, ein Drittel davon fließt in den Grünen Deal.
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Wenn die Covid-19-Pandemie tatsächlich „ein Vorbote der neuen Epoche heftiger Umweltschocks war“, wie der Autor nahelegt, wie werden künftige Schocks aussehen? Die WHO beispielsweise ist erschütternd unterfinanziert und von privaten Stiftungen abhängig. Wie sähe das Krisenszenario aus, wenn nicht in beispielloser Geschwindigkeit Impfstoffe entwickelt worden wären? Das kooperative Zusammenwirken der wissenschaftlichen Community feiert Tooze mit Recht als „eine der bemerkenswertesten Leistungen“ der Menschheitsgeschichte.
Der riesige Umbau, der nötig ist, um die Effekte des Klimawandels, der schwindenden Biodiversität und die Gefahr zunehmender Zoonosen in Grenzen zu halten, wird unendlich viele Ressourcen benötigen. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Ob sich Klimaschutz und Wirtschaftswachstum überhaupt vertragen, bleibt selbst mit forcierten Infrastrukturmaßnahmen offen. Neue Technologien und eine lockere Geldpolitik allein werden die Aufgaben kaum lösen. Wer glaubt, es gäbe irgendwann nach der Pandemie eine Rückkehr zum sogenannten Normalzustand, wird sich klarmachen müssen, dass wir wahrscheinlich gerade die „erste umfassende Krise des kommenden Zeitalters des Anthropozäns“ erleben.