Der habsburgische Datenkrake
Im Jahr 1777 macht der wie gewohnt inkognito, als Graf von Falkenstein reisende Monarch irgendwo in Frankreich Halt in einer Poststation. Zufällig soll soeben das frisch geborene Söhnchen des Postmeisters getauft werden, und der Fremde bietet sich als Taufpate an. Wie er heiße, will der Priester wissen. Die schlichte Antwort „Joseph“ ist ihm nicht genug, er fragt nach, doch der Reisende bleibt ihm rätselhaft: „Ich dachte, dies genügt. Aber wenn Ihr wollt, nun, dann setzt hinzu: Joseph der Zweite.“ Nun will der Gottesmann, der Formalitäten wegen, nur noch den Beruf des Paten wissen: „Kaiser.“
Eine vielleicht nicht ganz verbürgte Begebenheit aus der Anekdotensammlung, die ein gewisser Chevalier du Coudray noch im selben Jahr über die Frankreichreise des deutsch-römischen Kaisers Joseph II. herausbrachte. Zumindest wäre sie gut erfunden, typisch für die Art, wie Joseph Untertanen, den eigenen wie denen anderer Monarchen, gegenübertrat – und schon deswegen geeignet, von der österreichischen Autorin Monika Czernin („Anna Sacher und ihr Hotel“) in ihrem Buch über den habsburgischen Reisekaiser erzählt zu werden.
Herrscher des 18. Jahrhunderts reisten selten
„Der Kaiser reist inkognito“: Schon der Buchtitel deutet an, dass Joseph II. unter seinen Standesgleichen eine Ausnahmeerscheinung war. Herrscher des 18. Jahrhunderts, von Russlands Peter I. und Preußens Friedrich II. abgesehen, verließen ihre Schlosser kaum, erfuhren daher wie Ludwig XVI. und seine Marie Antoinette, Josephs Schwester, höchstens indirekt vom wahren Zustand ihrer Reiche.
Joseph II. dagegen, seit dem Tode seines Vaters 1765 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, dazu Mitregent seiner Mutter Maria Theresia (und nach deren Tod 1780 für zehn Jahre Alleinregent) über die österreichisch-habsburgischen Erblande, hatte es sich schon früh, von der Mutter wie dem Wiener Hof misstrauisch beäugt, zum Ziel gesetzt, sein Reich zu bereisen.
Nicht zum Vergnügen und auch nicht, wie ihm unterstellt wurde, um dem Hofzeremoniell zu entfliehen, sondern um sich für seine Aufgaben als Herrscher zu rüsten, wie er 1767 notiert: „Wenn das Reisen für jeden denkenden Menschen nützlich ist, so ist es das um so mehr für einen Souverän, der, alle Vergnügungen zurückweisend, sich nur auf die Nützlichkeit seines Tuns konzentriert.“ Oder, wie Monika Czernin formuliert: „Nichts anderes wollte er beschaffen: Daten, Daten, Daten. Über alles und jeden.“
Sie waren Voraussetzung für das von ihm angestrebte, freilich nur in Ansätzen verwirklichte Lebenswerk: die Umwandlung seines Reiches in einen modernen Zentralstaat, die Reform dieses von großen sozialen Spannungen heimgesuchten Flickenteppichs mit seinen widerstreitenden Partikularinteressen, dessen Menschen vielfach noch in den Traditionen der mittelalterlichen Ständegesellschaft verharrten, zu einem die Prinzipien der Aufklärung erfüllenden Gemeinwesen.
Über 40 solcher Reisen, einschließlich der zu den Schlachtfeldern seiner Kriege, hat Joseph II. unternommen, dabei fast 50 000 Kilometer durch die von ihm regierten Teile Europas und auch darüber hinaus zurückgelegt – und dies dank seines Inkognitos sehr spartanisch. Zwar wusste man auf den Stationen der Reisen meist Bescheid oder erkannte ihn bald. Aber als Graf von Falkenstein – einer der vielen Titel, die ihm zustanden – war er von den Pflichten der Etikette und des Hofzeremoniells weitgehend befreit und konnte – so die gegenüber dem Kaiser nicht unkritische, doch ihm zugetane Autorin – seinen Untertanen „nahezu auf Augenhöhe“ begegnen und sich sicher sein, dass die gesammelten und stets schriftlich festgehaltenen Informationen nicht durch Lakaienhand geschönt waren.
Am Vorabend der Französischen Revolution
Neun dieser Reisen, die ihr als die wichtigsten erschienen, hat Monika Czernin beschrieben, spannend selbst für Leser, denen habsburgische Monarchen nicht unbedingt am Herzen liegen. Joseph II. schildert sie dabei nicht allein als wohlmeinenden, in seinen Reformbestrebungen oft ungeduldigen und daher zuletzt scheiternden Regenten des Acien Régime, das mit der Französischen Revolution kurz vor seinem Tod blutig endete. Mit den Reichserkundungen entwirft sie zugleich ein detailliertes Bild der europäischen Welt des 18. Jahrhunderts und liefert neben dem Porträt des Kaisers eines des Kontinents, dies in durchaus unterhaltsamem Stil. Angesichts der Intensität, mit der sie sich in beider Geschichte vertiefte, habe ihre Erzählung „automatisch romanhafte Züge“ angenommen, gesteht sie selbst ein. „Dennoch: Alles ist verbürgt, nichts erfunden.“
Es zeichnet ihr Buch aus, dass sie nur behutsam versucht, Parallelen zwischen damals und heute anzudeuten. Immerhin gibt ihr das „Bild der Epoche vor der Französischen Revolution und seiner vielfach krisengeschüttelten, auseinanderklaffenden Gesellschaft“ angesichts heutiger Krisen wie Klimawandel, Pandemie, der Schere zwischen Arm und Reich „ein Gefühl von erstaunlicher Aktualität“ ihrer Geschichte, in der sie eine „Studie über Politik, über die Risiken von Transformationen und die Beharrungskräfte von Gesellschaften“ sieht.
Kräfte, gegen die Joseph II. sein Leben lang angekämpft und dabei, so Monika Czernin, „das Titanenwerk eines großen Politikers und Herrschers“ geschaffen hat, auch wenn er selbst kurz vor seinem Tod resigniert schrieb: „Ich habe immer nur gewollt.“