Denis Scheck über die Top-Ten der Sachbücher: Zukunftskolonialismus
10.) Gabriele von Arnim: Der Trost der Schönheit (Rowohlt, 222 S., 22 €.)
Unser Land ist zwar reich, aber unsere Städte mitunter so hässlich, dass einem die Brillengläser zerspringen möchten. Um so dringender sind wir auf den Trost der Schönheit angewiesen. „Man braucht innere Freiheit und die eigene innere Zeit, um jenseits von Klischees und herkömmlichen Normen sehen zu können. Um Schönheit zu finden und zu empfinden“, schreibt Gabriele von Arnim in diesem augenöffnenden Essay. Bravo!
9.) Michel Friedman: Schlaraffenland ist abgebrannt (Berlin, 224 S. 24 €.)
Engagiert, klug und berechtigt wütend erzählt Michael Friedman von seiner Angst vor einem Deutschland, das es normal findet, wenn die AfD bei über 20 Prozent liegt. Eine notwendige Intervention.
8.) Florence Gaub: Zukunft (dtv, 224 S. 23 €.)
Die Politologin Florence Gaub besitzt das rare Talent, Menschen die Angst vor der Zukunft zu nehmen. indem sie in ihrem Buch auf den Wert von aktivem Handeln, positiven Visionen und neuen Ideen hinweist – und auch vor dem sogenannten „Zukunftskolonialismus“ warnt, der, Zitat, „gewalttätigen Aneignung von etwas, das einem nicht gehört.“
7.) Dirk Oschmann: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung (Ullstein, 224 S., 19,99 €.)
Dieser Essay ist ein zorniger und notwendiger Protest gegen die Benachteiligung Ostdeutschlands. Diese sollte schon deshalb aufhören, weil man dann auch, wie Oschmann am Ende seines Buchs schreibt, aufhören könnte, Zitat: „das unfreie und idiotisch binäre West-Ost-Schema zu bedienen …und stattdessen das ganze Land im historisch gewachsenen Reichtum seiner unterschiedlichen Regionen, Dialekte, Mentalitäten und Kulturlandschaften sehen und zugleich als eigentlich Zukunftspotenzial ernst zu nehmen.“ Schön wär’s.
6.) Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwister (C.H. Beck, 191 S., 23 €.)
Wie kann es sein, dass eine über viele Jahrhunderte dominierende Lebensform binnen weniger Jahre fast komplett verschwunden ist? Ein Memorial für den deutschen Bauernstand.
5.) Brianna Wiest: 101 Essays, die dein Leben verändern werden (Deutsch von Ursula Pesch und Anja Lerz, Piper, 432 S., 22 €.)
Ein US-amerikanischer Ratgeber, der neben mancher Binsenweisheit auch erstaunlich viele profunde Wahrheiten darüber enthält, wie wir ticken, was uns krank macht und wie wir uns dank unserer Einsicht und Fähigkeit zur Selbstwirksamkeit aus unserem Elend erlösen können.
4.) Walter Isaacson: Elon Musk (Deutsch von Sylvia Bieker, Gisela Fichtl, Katharina Martl, Ulrike Streath-Bolz, Anke Wagner-Wolff, Henriette Zeltner-Shane, C. Bertelsmann, 832 S. 38 €.)
Wie tickt der reichste Mensch der Welt? Musks DNA, erfahre ich aus dieser Biographie, besteht wie die von Jeff Bezos zu wesentlichen Teilen aus frühen Science-Fiction-Lektüre. Gut möglich, dass man ein Soziopath sein muss, wenn man das Elektroauto neu erfinden und die Menschheit auf den Mars bringen möchte, um sie einer „Ein-Planeten-Zivilisation“ zu einer „multiplanetaren“ werden zu lassen. Musks Tweets sind jedenfalls mitunter so blöd, dass man an der Existenz intelligenten Lebens auf der Erde zweifelt.
3.) Reinhold Beckmann: Aenne und ihre Brüder (Propyläen, 352, 26 €.)
Reinhold Beckmanns Mutter Aenne hatte vier Brüder, die alle im Zweiten Weltkrieg starben, ihre Feldbriefe und einige Dokumente blieben im Besitz der Familie. „Normalerweise kommen Onkel ja an Feiertagen zu Besuch“, schreibt Beckmann. „Meine vier Onkel kamen immer im Schuhkarton … zu mir. In Sütterlin.“ Spannend wird diese anrührende Familienaufstellung, weil Beckmann sie etwa durch die Schilderung seiner Kriegsdienstverweigerung in Bezug zu seinem eigenen Leben setzt.
2.) Sophie Passmann: Pick Me Girls (Kiepenheuer & Witsch, 224 S., 22 €.)
„In einer coolen Welt würden Männer Bücher von Frauen lesen“, schreibt Sophie Passmann. Ich habe mich in diesem Fall ehrlich bemüht, aber ein Zuviel an Nabelschau, an Internet und Popmusik und ein Zuwenig an Geist, Tiefe und Ideen haben mir den Zugang zu diesem zähfädigen Text über weibliche Autoagression verleidet. Lesen wir also bitte Simone de Beauvoir, Hannah Arendt oder Silvia Bovenschen, gern auch Antje Ravic Strubel, Ursula K. LeGuin oder Siri Hustvedt, aber bitte nicht diesen erkenntnisarmen narzisstischen Diarrhoe-Essay über Larifari-Feminismus. Definitiv ein Pick-me-not-book.
1.) Axel Hacke: Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens sein sollte (DuMont, 224 S., 20 €.
Herrn Hacke und mich verbindet etwas: Wir beide möchten gern heiter sterben. Also am liebsten gar nicht, schon klar. Aber wenn schon, dann bitte heiter. Das Geheimnis der Selbstverständlichkeit, mit der Axel Hacke Platz 1 dieser Bestsellerliste erobert, liegt an der Sprechhaltung seines Buchs, in dem er erkundet, was das eigentlich ist: Heiterkeit. Und warum statt Heiterkeit heute moralische Schwere regiert. Das macht er nie auftrumpfend, nie laut, immer leicht, elegant und mit einem Lächeln. Heiter eben.