Comic über Film- und Zeitgeschichte: Mit einem Filmmonster in die Freiheit
Als die südkoreanische Schauspielerin Choi Eun-hee 1978 im Auftrag des Diktatorensohns Kim Jong-il entführt wird und sich als dessen „Gast“ in Nordkorea wiederfindet, ahnt sie nicht, dass sie nie wieder in ihr altes Leben zurückkehren wird. Ihre Kinder wird sie erst knapp zehn Jahre später wiedersehen. Was sie in Nordkorea soll, was Kim Jong-il von ihr will, erfährt sie lange Zeit nicht.
Nach jahrelanger Gefangenschaft im goldenen Käfig und permanenter Gehirnwäsche trifft sie auf ihren Ex-Ehemann, den Regisseur und Produzenten Shin Sang-ok. Zusammen hatten sie in Südkorea zahlreiche Filme produziert. Shin Sang-ok war im gleichen Jahr verschleppt worden wie Choi Eun-hee, doch er durchlitt die Zeit im Gefängnis. Kim Jong-il outet sich als Film-Fanatiker und eröffnet den beiden endlich, warum er sie entführt hat: Sie sollen mit neuen Filmen die nordkoreanische Filmindustrie beleben. Und das tun sie – so erfolgreich, dass man sie 1985 ins Ausland reisen lässt, wo sie schließlich alles auf eine Karte setzen und fliehen.
So absurd und abenteuerlich dies alles anmutet: Es ist wirklich geschehen. Jetzt haben die Comickünstlerin Sheree Domingo („Ferngespräch“, Edition Moderne 2019) und der Autor und Journalist Patrick Spät („Der König der Vagabunden“, Avant Verlag 2019) diese Geschichte mit einem beeindruckenden Comic geehrt. Für ihr zu dem Zeitpunkt noch in der Entstehung befindliches Projekt wurden Domingo und Spät 2022 mit dem Comicbuchpreis der Berthold Leibinger Stiftung ausgezeichnet.
In „Madame Choi und die Monster“ erzählt Patrick Spät zusätzlich zur non-fiktionalen, biografischen Handlung den imaginierten Plot des südkoreanischen Films „Bulgasari“ von 1962 nach, in dem ein eisenfressendes Monster die Bevölkerung im Kampf gegen einen grausamen Herrscher unterstützt. Der Film „Bulgasari“ befindet sich heute, wie das titelgebende Monster, das dem kulturellen Fundus koreanischer Volkserzählungen entlehnt wurde, im Reich der Mythen, da sämtliche Kopien als verschollen gelten.
Hatte Kim Jong-il mit dem Verschwinden der „Bulgasari“-Filmrollen zu tun? Zumindest verlangt er von dem Filmpaar, dass es den Film noch einmal dreht, unter dem fast identischen Titel „Pulgasari“. Um den Film so imposant wie möglich zu gestalten, werden keine Kosten gescheut. Man lässt das japanische Filmstudio Tōhō, aus dem auch „Godzilla“ stammt, die Spezialeffekte produzieren, und sogar der japanische „Godzilla“-Darsteller Kenpachiro Satsuma wird engagiert. Die nordkoreanische Bevölkerung leidet derweil unter Armut.
Expressive Linien bringen viel Dynamik in die Bilder
Sheree Domingos expressive, mit dickem Pinselstrich gezeichnete Linien und Figuren bewirken einen wilden, teilweise fast schnodderigen und skizzenhaften Stil, der so gar nicht zu der Eingezwängtheit der Protagonisten in das fremde Regime passt. Ausgeglichen wird der raumgreifende Strich durch die sparsame, monochrome Kolorierung in Hellblau- und Orange-Tönen – die im Gegenspiel des Komplementärkontrasts wiederum neue Dynamik in die Bilder bringt.
Sheree Domingo schafft es anhand ihres Zeichenstils und der Wahl der Motive mit einfachen Mitteln, Choi Eun-hees Widerspruch der äußerlich demonstrierten Anpassung und dem innerlich erhaltenen Freiheitsdrang, ihrer Willensstärke und ihrem Wut darzustellen.
Statt von einer Frau, die Opfer der absurden Machtfantasien eines Diktatorensohns wird, werden die Panels in „Madame Choi und die Monster“ von starken Frauenfiguren dominiert: Die junge Heldin beim Nacktbaden und als Herrin des Monsters in „Bulgasari“. Choi Eun-hee als Bühnenschauspielerin beim Schwertkampf, Choi Eun-hee, wie sie sich löst aus kaputten Beziehungen, selbstbewusst als Geschäftsfrau im Minirock auftritt oder mit einer filmreifen Verfolgungsjagd aus der Gefangenschaft flieht.
Auch wenn ihr Ex- und zum zweiten Mal geheirateter Mann als Regisseur des Erfolgsfilms gilt, der das Paar schließlich nach Wien und in die Freiheit brachte: Die Heldin dieses Comics ist Madame Choi. Mit kleinen komischen Elementen wie einem verrutschten Soldatenhelm oder einem Soldaten, der sich am sausenden Schwanz des Monsters festkrallt, lockert Domingo die Ernsthaftigkeit des Themas immer wieder auf und erinnert daran, dass alte Martial Arts- und Monsterfilme meistens auch etwas Trashiges und Witziges haben.
Neben den starken Bildern gerät der aufwändig recherchierte historische Kontext ein wenig ins Abseits, was die Lektüre mitunter etwas erschwert, da die Zusammenhänge nicht immer gleich fassbar sind, wenn man sich mit diesem Teil der koreanischen Kulturgeschichte noch nicht beschäftigt hat. Hilfreich ist aber die ausführliche Timeline im Anhang.
Besonders hervorzuheben ist die aufwändige Gestaltung des Bandes. Passend zum Thema macht das collagierte Cover-Bild im Stil eines trashigen Filmplakats à la 60er Jahre auf die Story dahinter neugierig. In den doppelten Papierlagen des Einbandes verbirgt sich noch eine Überraschung: Ein Fold-out-Plakat gewährt einen Blick auf die Zeitgeschichte.
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