Comic-Mütter und Mütter-Comics: Die wahren Superheldinnen des Alltags
Mit geschlossenen Augen und Kopfhörern sitzt eine junge Frau am Keyboard und komponiert. Die Klänge fließen als geschwungene, farbige Linien aus dem Instrument, es ist ein Moment der Hingabe an die Kunst. Doch dann verpufft die Blase.
„Mama?“ Der kleine Sohn der Künstlerin steht vor ihr mit tropfendem Shirt. Sie steht auf, zieht ihm ein neues an, kümmert sich. Als die ersten Klänge wieder beginnen zu fließen, fallen sie gleich wieder auseinander. „Mama?“ Die Hose ist nass. Vor der Waschmaschine hockend, macht sich erster Stress bei der Mutter bemerkbar, den Frust bekommt die Teenager-Tochter ab.
Die Aufgabe, vor der sie steht – innerhalb einer Woche als Alleinerziehende zweier Kinder ein Stück für einen wichtigen Wettbewerb zu komponieren – scheint im Handlungsverlauf der Graphic Novel „Der Zeitraum“ der Autorin und Comiczeichnerin Lisa Frühbeis, der Ende Mai beim Carlsen Verlag erscheint, immer unmöglicher.
Ausgezeichnet als bester Webcomic
Bereits 2021 wurde der Comic unter dem Titel „A fraction of time“ als Webcomic auf der Plattform „Tapastic“ veröffentlicht und erhielt beim Ginco-Award 2022 die Auszeichnung als bester Webcomic.
In eindrücklichen, mit schwarzer Tinte und Aquarell gezeichneten Bildern erzählt Lisa Frühbeis die Geschichte der alleinerziehenden Mutter, die – aus der Wohnung gekündigt – mit ihren Kindern auf eine Insel in den norwegischen Lofoten fährt und dort im winzigen Ferienhaus eines Verwandten zu arbeiten versucht.
In der Landschaft scheint die Zeit stillzustehen. Stimmungsvoll fügen sich die Linien der kleinen Inseln vor der Linie des Horizonts in friedlichen Aquarellszenen zusammen. Die fließenden Grautöne kontrastieren mit klar definierten schwarzen Outlines und weißen Flächen. Im Tiny House tobt hingegen bald das Chaos.
Der Burnout scheint unvermeidlich
Der Spagat zwischen dem Anspruch und der Notwendigkeit, mit einem künstlerischen Beruf Geld zu verdienen, auf der einen und dem Wunsch, eine gute Mutter zu sein, auf der anderen Seite ist so groß, dass es die Frau zu zerreißen droht. Mit ihren Sorgen und Problemen ist sie allein.
Der Vater der Kinder ist keine Hilfe, die Mutter der Alleinerziehenden hat kein Verständnis für das künstlerische Schaffen der Tochter und befindet sich dazu noch selbst in einer Care-Arbeit-Falle mit ihrem pflegebedürftigen Mann. Die Deadline rückt näher, der Burnout, so scheint es, ist programmiert.
Tor zu einer anderen Welt
Doch als der Druck unerträglich wird, öffnet sich der Frau plötzlich ein Tor zu einer anderen Welt. In der Gestalt eines anthropomorphen Monsters lässt sie dort alles hinter sich. Mit seiner Vulva-Form lässt das Tor vermuten, dass die hindurchsteigende Frau sich in den sorglosen Zustand eines Ungeborenen zurücksehnt.
Doch sie ist selbst schon Mutter, es gibt kein Zurück, und auch nicht die Frage, ob sie so leben will. Nur noch die Frage nach dem Wie – wie sie das alles schaffen kann. Die Antwort ist so simpel wie unerbittlich: „So schwer… Aber ich muss es!“
Zentral greift „Der Zeitraum“ Probleme auf, mit denen Frauen und speziell Mütter heute noch immer konfrontiert sind – und mit denen sie politisch und gesellschaftlich weitgehend alleingelassen werden. Mit der Verbreitung von Begriffen wie Mental Load und Care-Arbeit stieg besonders in der Pandemie die Aufmerksamkeit für die massive Über- und Mehrfachbelastung von Müttern.
Ungleiche Verteilung der Care-Arbeit
Ihnen fiel während der Schul- und Kita-Schließungen auch in Familien mit Vätern zusätzlich zur Lohnarbeit in großen Teilen die Sorge um die Kinder zu, wie etwa 2020 die Illustratorin Aubrey Hirsch in ihrem Comic-Artikel „The hell that is remote learning, explained in a comic“ in dem amerikanischen Online-Nachrichtenportal Vox.com zeigte.
Die ungleiche Verteilung der Care-Arbeit hat schon in den 70er Jahren die französische Zeichnerin Claire Bretécher in ihren feministischen Kult-Comics aus der Reihe „Die Frustrierten“ (2022 erschien eine Gesamtausgabe bei Carlsen) angeprangert. Der Mental Load zu Lasten der Mütter hält sich offenbar trotz besseren Wissens und vielfältiger Möglichkeiten für einen Wandel hartnäckig als Norm im kollektiven Bewusstsein.
Immer öfter ein Thema
Im Comic werden Mütter, Mutterschaft und die Auseinandersetzung mit Mutterrollen aber zunehmend thematisiert, was auch daran liegen könnte, dass immer mehr herausragende Werke von weiblichen Comicschaffenden veröffentlicht werden und mit Preisen und Nominierungen auf sich aufmerksam machen.
Aus der Ich-Perspektive beschreibt etwa Alice Socal in „Wie lange noch?“ (2022 erschienen bei Rotopol) ihre Emotionen während der Schwangerschaft – und ihre Ängste davor, dass sie als Mutter nicht mehr künstlerisch arbeiten kann. In ihrer preisgekrönten Graphic Novel „Das Licht, das Schatten leert“ erzählt Tina Brenneisen vom Tod ihres ungeborenen Kindes und wie sie die bodenlose Trauer verarbeitet.
Christiane Haas stößt bei ihrer Strip-Sammlung schräger Alltagssituationen „Im ewigen Kreis“, das im März beim Avant Verlag erschien, nicht selten auf solche mit Kind, in denen andere Menschen, gerne auch Fremde, meinen zu wissen, was die (werdende) Mutter gerade falsch macht.
Hormongesteuerte Wesen
Mit viel Humor beobachtet auch Dorothea Huber in „Aus Mutters Mund“ (erschienen 2022 im Jaja-Verlag) ihren Körper und das Wachsen in ihrem Bauch und entlarvt manch grotesken Moment aus der mitunter irritierenden Welt, in der Schwangere sich des öfteren wiederfinden – sei es beim Schwangerenyoga oder wenn sie plötzlich auf hormongesteuerte Wesen ohne freien Willen reduziert werden.
Andere Autor:innen und Zeichner:innen schauen dagegen auch auf negative Mutterperspektiven. So etwa der Japaner Shuzo Oshimi in seiner Manga-Serie „Blood on the Tracks“, in der die toxische Mutter-Sohn-Beziehung auf ein dunkles Geheimnis zusteuert. Der Schweizer Stefan Haller betrachtet in „Schattenmutter“ (erschienen 2021 bei Edition Moderne) seine Kindheit unter Zuhilfenahme der Tagebücher seiner psychisch kranken Mutter.
In „Hort“ (erschienen 2022 bei Edition Moderne) nimmt die Hamburger Comickünstlerin Marijpol drei vernachlässigte Kinder in das Repertoire ihrer Protagonist:innen auf, die in einer verwahrlosten Wohnung leben und deren Mutter während der Handlung konsequent durch Abwesenheit glänzt. Gleichzeitig stellt sie jedoch die Frage, was Weiblichkeit eigentlich ausmacht und welche gesellschaftlichen Erwartungen und Wünsche an Mutterschaft und Weiblichkeit vorherrschen.
Prekäre Lebensumstände
Ähnliche Fragen stellt die Belgierin Judith Vanistendael in ihrer Graphic Novel „Penelopes zwei Leben“ (erschienen 2021 bei Reprodukt) über eine Ärztin, die sich in einem syrischen Feldkrankenhaus aufreibt und immer weniger am Leben ihrer Tochter zu Hause in Belgien teilhat. Die Schweizerin Anna Sommer entwickelt in ihrem verstörenden Buch „Das Unbekannte“ ein stilles Drama um unerfüllten Kinderwunsch und ungewollte Schwangerschaft.
Der Spagat zwischen künstlerischer Arbeit und Care-Arbeit als Mutter ist ein Thema, das in veröffentlichten Comics und Graphic Novels bisher kaum präsent ist – wie auch in anderen künstlerischen Medien.
Wie relevant und wichtig eine Debatte darüber ist, zeigen etwa die Forderungen der 2022 gegründeten Comicgewerkschaft, die auf die prekären Lebensumstände Kunstschaffender Eltern verweisen, deren Existenzdruck sich mit der Sorge um ihre Kinder noch verstärkt. Auch zeigen sie, wie sehr etwa Comicschaffende als Eltern bei der Vergabe von Aufenthaltsstipendien benachteiligt sind – und damit weniger Zugang zu wichtigen Förderungen und beruflichen Impulsen haben.
Auch die Perspektive einer alleinerziehenden Mutter wird bislang wenig künstlerisch verarbeitet. Dies könnte sich mit Blick auf die Zahlen alleinerziehender Elternteile aber ändern. 18 Prozent der Kinder in Deutschland leben laut Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend mit nur einem Elternteil im Haushalt – das in 90 Prozent der Fälle die Mutter ist.
Im Comic machte diesbezüglich die Schauspielerin Emilia Clarke, bekannt geworden als die Drachenflüsterin Daenerys Targaryen in der Fantasy-Hitserie „Game of Thrones“ einen Vorstoß: In „M.O.M.: Mother of Madness“ (auf Deutsch bei Carlsen erschienen im März 2023) macht sie eine alleinerziehende Mutter zur Superheldin, die gegen toxische Männlichkeit und weibliche Unterdrückung kämpft – mithilfe ihrer Hormone vor während und nach ihrer Periode.
Der Comic spielt in der nahen Zukunft. Vielleicht leben wir bis dahin in einer Welt, in der es Superheldinnen nicht mehr braucht und Frauen sich nicht zerreißen müssen, sondern beides sein dürfen: Künstlerinnen und gute Mütter. Möglich wäre es.