Aseptische Pilger und jede Menge Masken

Man muss früh da sein. Wer sich nicht spätestens eine Stunde vor Vorstellungsbeginn registriert hat, kommt nicht rein. Hat aber auch Vorteile. Denn was tun mit der geschenkten Stunde? Zum Beispiel: die Bäume im Park genießen, dem Wind in den Blättern lauschen, entsetzte Besucher vor Cosima Wagners Büste ausrufen hören: „Oh Gott, die ist ja von Breker!“

Rosen bewundern, sich freuen, dass es nur 23 Grad hat – das war auf dem Grünen Hügel schon ganz anders. Sich einen fränkischen Weißwein gönnen an einem der ausgelagerten, mobilen Ständen, sich fragen, ob man das jetzt gut findet, dass im Festspielhaus inzwischen auch kurze Hosen „gehen“. Willkommen in Bayreuth im Pandemiejahr 2021.

Die FFP2-Maske ist Pflicht

Leise Dankbarkeit durchzieht das Herz, überhaupt wieder hier zu sein. Anders als Salzburg hatte Bayreuth 2020 kapituliert, die Festspiele samt der „Ring“- Neuinszenierung abgesagt – dergleichen war seit 70 Jahren nicht geschehen.

Doch in die Erleichterung mischen sich Zweifel: Jeder zweite Platz bleibt frei, okay, aber warum nochmal muss die schwere FFP2-Maske die gesamte Vorstellung über getragen werden, wo doch niemand hineinkommt, der nicht geimpft, getestet oder genesen ist?

Was bedeutet das für die künftige Normalität, werden Masken ab jetzt immer dazugehören, völlig losgelöst vom Impffortschritt, von der konkreten Bedrohung, einfach so? Auch die kleine Containerstadt, die vor dem Festspielhaus entstanden ist, erzählt von der Schwierigkeit, einen Ausweg aus der Corona-Angst zu finden, vom Verlangen, möglichst viel an die frische Luft zu verlagern.

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Sollte es in den Pausen regnen, werden eben alle nass. Rein darf trotzdem niemand. Frage an eine Eisverkäuferin: Gibt es ein Konzept, falls es regnet? Antwort: „Nein“. Ist das schon vorgekommen in den letzten Wochen? „Ja“.

Die gerne verdrängte Abhängigkeit des Menschen von der Natur, sein Ausgeliefertsein – ein Virus zwingt sie ins Bewusstsein. In der mystischen Dunkelheit des Festspielhauses aber verflüchtigt sich die Pandemie schnell.

Nur einmal noch während des Films, mit dem Tobias Kratzer seine „Tannhäuser“-Inszenierung von 2019 beginnt, taucht sie kurz auf. Das Video wurde nämlich aktualisiert.

Tannhäuser und seine Truppe – Venus (Ekaterina Gubanova), Drag Queen Le Gateau Chocolat (Kyle Patrick) und der wackere Blechtrommler Oskar (Manni Laudenbach) – düsen wieder im wackeligen Lieferwagen durch deutsche Lande, müssen aber jetzt einen Corona-Schnelltest machen, bevor sie weiterfahren dürfen.

Tannhäuser flieht in die clowneske Kleinkunst

Ansonsten überzeugt die Produktion auch im zweiten Jahr (2020 fiel ja aus). Der so entsetzlich zwischen zwei Frauen und zwei Liebesprinzipien zerrissene Tannhäuser, einer von Wagners interessantesten Charakteren, ist hier in die clowneske Kleinkunst geflohen – und nie kann man sich sicher sein, ob er seine zwei schillernden Begleiter und Venus nicht ständig nur imaginiert.

Stephen Gould leistet in der Titelrolle fast Übermenschliches. Wie er sich mit reinem, völlig textverständlichem Tenor und stupender Intonationsicherheit verströmt und selbst in der Romerzählung im dritten Aufzug noch alle Kraft beieinander hat, haut um.

Ebenfalls wie um ihr Leben singt Gubanova, deren Venus paillettenbesetzte Aufwieglerin so skrupel- wie furchtlose Anführerin zugleich ist. Etwas scharf im Sopran klingt Lise Davidsen, aber als Elisabeth liefert sie das glaubhafte Porträt einer Verzweifelten, die sich die Unterarme aufritzt – angeblich ein typisches Merkmal von Borderlinerinnen.

Der kernig-kraftvolle Bass sei gepriesen

Unbedingt gepriesen sei der frei heraus gesungene, unglaublich kernig-kraftvolle Bass von Günther Groissböck als Landgraf Hermann. Auch Markus Eiche kann als Wolfram punkten, seiner Tendenz zum Trotz, dem Orchester vorzugreifen, einen Tick zu früh einzusetzen.

Nach dem misslungen Premierendirigat von Valery Gergiev 2019 putzt jetzt Axel Kober aus. Wie er mit den tückischen Klangdifferenzen zwischen Orchestergraben und Saal umgeht, wie er klassisch-ausgewogen und dabei doch aufregend zur Sache geht, zeugt von großer Souveränität.

Der Chor wird von außen übertragen

Der Chor (Eberhard Friedrich) wird von außen übertragen, auf der Bühne bewegen andere Chormitglieder stumm die Lippen. Eine fragwürdige, übertrieben wirkende Vorsichtsmaßnahme. Beim ersten Auftritt des Pilgerchors klingt das furchtbar, aseptisch und plastikverpackt, später kurioserweise so gut, dass man meint, auf der Bühne würde wirklich gesungen.

In den Pausen bleibt es trocken. Ein Tiefdruckgebiet erreicht Bayreuth erst im dritten Aufzug, der Himmel öffnet sich. Doch jetzt strömen sowieso alle zu ihren Autos. Glück gehabt.