Antonio Rüdiger soll die deutsche Defensive stabilisieren
Kevin de Bruyne war am Freitag nicht dabei, als die belgische Nationalmannschaft zu ihrem ersten EM-Spiel nach St. Petersburg aufgebrochen ist. De Bruyne trainiert weiterhin individuell, aber es gibt immerhin Hoffnung, dass er bald wieder einsatzfähig ist – nach dem schlimmen Unfall, in den er vor zwei Wochen verwickelt war.
Die Diagnose – Bruch des Nasenbeins und des Orbitabodens – klang fast so, als wäre De Bruyne von einem Lkw erfasst worden. Doch der Lkw trug ein menschliches Antlitz und heißt Antonio Rüdiger. Im Finale der Champions League waren beide böse zusammengeprallt, doch während bei dem belgischen Offensivspieler von Manchester City anschließend die Gesichtsknochen operativ wieder in die richtige Ordnung gebracht werden mussten, konnte Rüdiger nach kurzer Behandlung weiterspielen und gewann mit dem FC Chelsea die Champions League.
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„Das war natürlich keine Absicht“, schrieb Rüdiger auf seinem Twitter-Account. Aber dass die Begegnungen mit dem kantigen Innenverteidiger auf dem Fußballplatz schmerzhaft sein können, das gehört für einen Offensivspieler wie de Bruyne gewissermaßen zum Berufsrisiko. „Er gibt einem das Gefühl: Wir haben einen Krieger hinten drin, der sich in alles reinwirft“, sagt Timo Werner, der sowohl in Chelsea als auch im Nationalteam mit ihm zusammenspielt. Rüdiger, 1,90 Meter groß, 85 Kilogramm schwer, steht für eine gewisse Unbeugsamkeit, die ihm gerade viel Anerkennung einbringt. Das war nicht immer so.
Von Löw geschützt, von Tuchel gefördert
Wobei: Zumindest für die Nationalmannschaft stimmt das nicht. Bei Joachim Löw stand Rüdiger stets hoch im Kurs. Der Bundestrainer hat ihn früh gefördert. Er hat über periodisch auftretende Aussetzer bei dem manchmal etwas zu stürmischen Verteidiger gnädig hinweggesehen und ihn immer wieder aufgeboten. „Eine sehr spezielle Beziehung“ sei das zwischen ihm und dem Bundestrainer, hat Rüdiger gesagt.
Die Erfahrungen der vergangenen Saison dürften die Verbundenheit noch verstärkt haben. Denn als Rüdiger in der Hinrunde bei seinem Klub kaum zum Einsatz kam, war es Löw, der ihm zumindest für die Nationalmannschaft die nötige Spielpraxis zusicherte. In der Premier League war Rüdiger an den ersten 19 Spieltagen nur vier Mal zum Einsatz gekommen; erst der Trainerwechsel beim FC Chelsea, von Frank Lampard zu Thomas Tuchel, hat seine Situation entscheidend verändert.
„Anfangs war es schwer“, sagt Rüdiger über seine Rückstufung im Verein. „Aber ich habe die Herausforderung angenommen und bin daraus als Sieger hervorgegangen.“ Sieger? Triumphator trifft es wohl eher. Ob er in der Form seines Lebens sei, wurde Rüdiger dieser Tage gefragt. „Ja, würde ich so sagen“, antwortete er. „Ich fühle mich gut körperlich. Ich bin generell glücklich, und natürlich spielt auch Thomas Tuchel eine große Rolle.“
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Unter Tuchel hat Rüdiger eigentlich immer gespielt. Mit ihm verbesserte sich Chelsea in der Liga von Platz neun auf vier und gewann am Ende auch die Champions League. In den sieben K.-o.-Spielen des Wettbewerbs kassierte das Team nur zwei Gegentore. „Er spielt ein System, das meine Stärken hervorbringt“, sagt Rüdiger über Tuchels Wirken. „Das hat den Ausschlag gegeben, dass ich von Spiel zu Spiel besser geworden bin.“ Unter dem neuen Trainer hat Rüdiger links in einer Dreierkette verteidigt, wobei der Vorzug für ihn weniger in der taktischen Grundordnung an sich lag als in deren Interpretation. „Wir schieben relativ viel durch“, erklärt der 28-Jährige. „Manchmal bin ich sogar im Mittelfeld.“ Und manchmal taucht er sogar noch weiter vorne auf.
Vom Stürmer zum Innenverteidiger
Vielleicht kommt in solchen Momenten die Vergangenheit in ihm durch. Bis zu seiner frühen Jugend hat Rüdiger als Stürmer gespielt. Dass er heute ein international gefeierter Verteidiger ist, hat er vor allem Hertha BSC zu verdanken. Einem Verein, der in seinem Lebenslauf gar nicht vorkommt. Rüdiger, geboren in Berlin, aufgewachsen in Neukölln, hat für den VfB Sperber gespielt, für Tasmania, die Sportfreunde Neukölln und Hertha Zehlendorf. In der U 13 aber hat er, dank einer Gastspielgenehmigung, bei Hertha BSC mittrainiert, unter anderem mit Nico Schulz, der später auch Nationalspieler geworden ist.
Zeljko Ristic, damals Trainer von Herthas U 13, hat Rüdiger aus dem Sturm in die Innenverteidigung versetzt. „Er war aggressiv, kopfballstark, schnell, aber mit dem Rücken zum Tor war er nicht gut“, erklärt er. Für einen Innenverteidiger brachte Rüdiger alles mit; und das, was ihm noch fehlte, war zumindest trainierbar. Ristic hat sich damals bei Hertha dafür ausgesprochen, Rüdiger für die U 14 fest zu verpflichten. Doch dazu kam es nicht. Statt zur großen Hertha wechselte er zur kleinen nach Zehlendorf und zog von dort zwei Jahre später hinaus in die große weite Fußballwelt.
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Berlin hat er früh verlassen, Verteidiger ist er geblieben. Inzwischen einer „auf allerhöchstem Niveau“, wie Bundestrainer Löw findet. Mats Hummels, sein mutmaßlicher Nebenmann in der Nationalmannschaft, sagt sogar: „Man kann durchaus das Wort Weltklasse in den Mund nehmen. Toni hat gezeigt, dass er ein absolut überragender Verteidiger sein kann.“
Die wackelige Defensive der Nationalmannschaft war in den vergangenen Monaten immer wieder ein Thema. Doch im Moment ruht diese Debatte. Das liegt natürlich an den Hoffnungen, die sich mit der Rückkehr von Routinier Hummels verbinden. Es hängt aber wohl noch viel mehr mit der aktuellen Stärke von Antonio Rüdiger zusammen.
Wie unter Tuchel bei Chelsea wird er auch in der Nationalmannschaft links in einer Dreierkette auflaufen, mit Hummels in der Zentrale und Matthias Ginter rechts. Die Formation verspricht in der Tat eine neue Stabilität, zumindest bis sie am Dienstag mit der harten Realität konfrontiert wird – mit der formidablen Offensive des ersten EM-Gruppengegners Frankreich nämlich. Antonio Rüdiger wird wohl auch diese Prüfung nicht fürchten. Nicht nach einem Jahr, in dem er etwas Wichtiges gelernt hat: „Niemals aufgeben, immer an sich glauben“, das sei das Geheimnis seines Erfolges gewesen. „Das habe ich getan.“