Gott und die Wirklichkeit

„Arne“ steht über dem ersten Kapitel von Karl Ove Knausgårds neuem Roman „Der Morgenstern“. Doch dieser Arne, der hier aus der Ich-Perspektive erzählt, könnte problemlos der Erzähler beispielsweise aus dem letzten der vier Jahreszeitenbücher des inzwischen in London lebenden norwegischen Schriftstellers sein, „Im Sommer“.

Ein heißer Augusttag irgendwo an einem Fjord in der Mitte Norwegens, nördlich der Hardangervidda, und ein Mann, Arne, der hier mit seiner Frau Tove und den drei Kindern Urlaub macht.

Sie ist psychisch schwer angeschlagen und scheint in eine Manie zu rutschen; er kümmert sich um sie, um die Kinder, trinkt zusammen mit einem Bekannten aus der Umgebung ein Gläschen, trinkt noch ein bisschen mehr, jetzt Whiskey gleich aus der Flasche, und macht sich so seine Gedanken: „Jetzt mochte ich den August am liebsten. Auch das war nicht weiter verwunderlich; ich stand mitten im Leben, an jenem Ort in der Zeit, an dem Dinge vollendet werden, in der Stagnation des langsam steigenden Überflusses, in dem Augenblick, bevor dieser nach und nach abgeschöpft wird und in einem ebenso langsamen Verfall ausklingt.“

Ein typischer Knausgård-Satz in einem typischen Knausgård-Setting, so wirkt es, im Grunde das gesamte erste Kapitel. Nur dass Karl Ove Knausgård jetzt doch einigermaßen erfolgreich versucht hat, „über was anderes zu schreiben als über mich selbst“. Das hatte er am Ende seiner aus sechs Bänden bestehenden autofiktionalen „Min Kamp“-Saga angekündigt – und das war ihm mit den Jahreszeiten-Büchern zunächst nicht gelungen.

Bisschen Dystopie, ein paar Horrorelemente

Zu nahe war er da trotz aller Natur- und Dingbeschreibungen an seinem Selbst, seinem Leben als Vater von vier Kindern und Ehemann einer an einer Psychose leidenden Frau. Immerhin hatte er sich darin zumindest an eine Art Romanprobe gewagt und die Geschichte einer jungen Norwegerin erzählt, die sich zur Zeit der deutschen Besatzung in einen österreichischen Wehrmachtsangehörigen verliebt und ihre Familie verlässt. 

Das wirkte, als würde Knausgård jetzt an einem historischen Roman sitzen, ja, als sei es mit so einer zeitlichen Entfernung in Richtung Zweiter Weltkrieg leichter für ihn, dem eigenen Ich zu entkommen.

„Der Morgenstern“ (Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand Literaturverlag, München 2022. 894 Seiten, 28 €.) aber ist mit seinen fast neunhundert Seiten ein ganz und gar gegenwärtiger Roman geworden; ein Roman, der mit dem titelgebenden, plötzlich am Himmel hell aufscheinenden, riesigen neuen Stern dezent dystopische Momente hat.

Und dazu Elemente, wie man sie aus Horrorfilmen und -romanen kennt, mit beispielsweise einer kreatürlichen Figur, die sonderbare Geräusche von sich gibt und weder Mensch noch Tier ist.

Arne ist neben Emil, Jostein und Egil sowie Solveig, Iselin, Vibeke, Turid, Kathrine einer von neun Ich-Erzählern und und -Erzählerinnen. Einige von ihnen leben in Bergen im Norden Norwegens und sind mal mehr, oft aber nur lose miteinander verbunden: Jostein und Turid sind verheiratet; Arne und Egil haben sich als Nachbarn kennengelernt in der Gegend, in der Arne Urlaub macht und Egil lebt; Solveig ist Krankenschwester in einer neurologischen Klinik in Bergen, in der irgendwann der Vater von Kathrine mit einem Schlaganfall eingeliefert wird.

Die Männer sind Alter egos von Knausgård

Das Milieu dieses Romans ist ein weißes, zutiefst skandinavisch-bürgerliches, ungeachtet der Tatsache, dass auch die norwegische Gesellschaft bei weitem nicht mehr so homogen ist wie in der Zeit, in der Karl Ove Knausgård aufwuchs.

Immer wieder scheinen in diesem Milieu familiäre Zusammenhänge auf, die denen des Autors gleichen: von der psychisch kranken Ehefrau des Universitätsprofessors Arne über die Krankenschwestern und Pflegekräfte Solveig und Turid (auch KnausgårdsMutter war Krankenschwester) bis hin zu den vielen Söhnen dieses Romans, die anders als die Töchter, nur schwer mit sich und ihrer Umwelt klar kommen und leicht gestört wirken.

Passagenweise hat „Der Morgenstern“ etwas von beispielsweise Sherwood Andersons „Winesburg, Ohio“ oder von Paul Andersons Film „Magnolia“ (der Froschregen sind hier urplötzlich auftauchende Marienkäfer- oder Krebsschwärme).

Das Schmökerhafte wird nicht zuletzt dadurch betont, dass Knausgård wieder einmal die alltäglichsten Verrichtungen seiner Erzählerinnen und Erzähler detailgetreu beschreibt, von Toilettengängen über Windelwechsel bis zu den einzelnen Schritten zum Aufsetzen eines Espressos.

Nicht immer gelingt es ihm dabei, seine Figuren von der eigenen Lebensfolie zu entfernen, sie unterscheidbar und zu eigenständigen Charakteren zu machen. Bei den Frauen funktioniert das noch mehr als bei den Männern, von denen Arne und insbesondere Egil als Zentralfigur in der Mitte des Romans mit einem Kapitel von knapp hundert Seiten wie Alter Egos des Autors wirken.

Doch deutet der neue Stern am Himmel an, dass dieser Roman nicht nur Alltags- und Milieustudie sein soll, dass hier Unvorhergesehenes, die kleinen Leben manifest Überwölbendes und die Welt aus ihren Verankerungen Lösendes passiert, ja, sich eine Zeitenwende andeutet, so wie es sich viele der Figuren zumindest im Privaten durchaus erwünschen.

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Der neue Stern (Komet? Silberschweif?) wird hier nicht nur diskutiert als Himmelserscheinung, die physikalisch erklärbar ist und es in den Jahrhunderten zuvor schon dann und wann gegeben hat, sondern als Zeichen Gottes – oder auch: des Teufels.

„Ein Morgenstern. Ich bin der helle Morgenstern, hatte Jesus gesagt. Aber bei Jesaja war der Morgenstern der Teufel. War es nicht so?“ Das fragt sich Egil, der hier die allermeisten essayistischen Passagen und Gedanken Knausgårds transportiert und den Roman ausgewiesenermaßen mit einem Essay beschließt, „Über den Tod und die Toten“ betitelt.

Egil diskutiert, mit Hilfe von Nietzsche oder Kierkegaard, ob das Christentum in erster Linie ein soziales Phänomen war und ist – oder ob es sich, nicht zuletzt in der Person von Jesus, nicht vom Sozialen wegbewegt, ja, ob nicht Jesus der Freiheitsapostel schlechthin ist. Ein Vorbild auch für ihn, Egil.

In seinen jungen Jahren war Freiheit für ihn das höchste Gut. Er verlor sie in einem Netz von sozialen Beziehungen, wie viele der Knausgård-Romanfiguren, und er hat sie sich nun zurückerobert, in der Einsamkeit eines von seinem Vater geerbten Sommerhauses. Egil ist ungebunden nach einer gescheiterten Ehe, wird aber von heute auf morgen wieder mit seinem zehnjährigen Sohn aus dieser Ehe konfrontiert.

Gott gibt es, Gott gibt es nicht

Wie heißt es zu Beginn von Egils Essay: „Mit dem Tod ist es ein bisschen wie mit dem Verhältnis zu Gott, nur umgekehrt: Intellektuell verstehe ich, dass Gott und das Göttliche nicht existieren, aber ich glaube trotzdem, dass sie es tun. Mit anderen Worten: Ich glaube, dass ich nicht sterben werde, und dass es Gott gibt, weiß aber, dass das Gegenteil der Fall ist.“

Diese Ambivalenz dekliniert Knausgård in seinem Roman Kapitel für Kapitel, Figur für Figur durch. Das tut er einerseits mit allerlei biblischen Zitaten, mit den mystischen Erfahrungen seiner Figuren in Form von mutmaßlich göttlicher Zeichen wie dem Stern, den ja alle vor Augen haben, wie eben jenen Marienkäfer- und Krebsschwärmen, mit einem zahmen Hirsch oder krähenden Raben. Und andererseits macht er das mit Toten, die womöglich gar nicht tot sind. Oder mit Lebenden, die sich ins Reich der Toten verirren.

Im Fall von Kathrine, der Pfarrerin, ist es ein Toter, den sie beerdigt und der einem Mann, den sie einen Tag zuvor auf einem Flughafen getroffen hat, wie aus dem Gesicht geschnitten gleicht; im Fall von Solveig, der Krankenschwester, ist es ein Patient, der zwei Schlaganfälle erleidet, für tot erklärt und für Organtransplantationen vorbereitet wird: Auf einmal beginnt dessen Herz wieder zu schlagen; im Fall von Jostein sind es erst Synkopen und später mutmaßlich ein Herzinfarkt oder ein Schlaganfall, die ihn in ein Dunkel führen, in dem er Untote trifft und wo er sich auf die Suche nach seiner Frau und seinem Sohn macht.

“Der Morgenstern” ist der erste Teil einer Romanreihe

Und im Fall von Egil ist es ein eigentlich totes sechsjähriges Mädchen, das er zusammen mit dessen trauernden Vater sieht. Was er erst nicht glauben will: „Das konnte nicht wahr sein. Das musste eine Halluzination gewesen sein. Aber wir hatten es beide gesehen. Konnte ich so auf Franks Wellenlänge eingestellt sein, dass ich suggestiv das Gleiche sah wie er?“

So wie er seinen ganzen Roman durchwoben hat mit den Fragen nach der Existenz Gottes, der „Wirklichkeitsganzheit“, dem Unbekannten, dem möglichen Leben oder unmöglichen Nichts nach dem Tod, scheint es Knausgård sehr ernst zu sein. Weshalb er sich auch nicht um eine präzise literarische Komposition schert: Alltagsprosa und einfachste Dialoge stehen in „Der Morgenstern“ unverbunden neben theologischen und philosophischen Diskursen, die manche der Figuren mit sich oder im Gespräch mit Freunden führen.

Die beiden Jüngsten, Emil und Iselin, verliert der Roman schnell aus den Augen, so wie eine andere, Vibeke, spät eingeführt wird, ohne dass sie dem Ganzen eine neue Facette verleiht (allerdings findet sie in ihrer Garage einen jungen Mann, der der Mörder von drei Mitglieder einer Death-Metal-Band sein könnte); und Egils Essay verläuft sich am Ende auch in der Schilderung einer Reise und was Egil dabei widerfährt.

Knausgård hat bei zwei Lesungen in Deutschland Anfang dieser Woche gesagt, „Der Morgenstern“ sei erst der Anfang einer Romanreihe. Das würde die etwas ins Leere laufenden Kapitel erklären. Was dieser Roman in Gänze zeigt: Knausgård ist ein dem Irrationalen nicht abgeneigter, immer wieder der Natur verbundener Romantiker. Dass er dabei nicht abstürzt, dafür sorgt sein wacher Blick für die Nichtigkeiten des Alltags.