Alle suchen das Weite
Man schaut im Moment fassungslos zu, wie die Documenta-Verantwortlichen, oder besser Verantwortungslosen, die Weltkunstschau in Kassel komplett auf Grund laufen lassen. Je länger das Nichtstun der Documenta-Leitung um Direktorin Sabine Schormann dauert, desto unmöglicher wird die Situation für die 1500 beteiligten Künstler, die in Kassel wie im Schwebezustand verharren.
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Wegen des auf dem Friedrichsplatz ausgestellten Werks mit antisemitischen Darstellungen war die Großausstellung in dieser Woche sogar Gegenstand im Bundestag. Die Union wollte eine unabhängige Untersuchungskommission einsetzen. Der Antrag wurde ebenso abgelehnt wie die Forderung der AfD, die Forschungsdisziplin Postkolonialismus insgesamt stillzuschalten und nicht weiter öffentlich zu fördern.
Jetzt liegt der Ball also wieder bei Kulturstaatsministerin Claudia Roth. Mit einem Fünf-Punkte-Plan und mehr Kontrolle durch den Bund will Roth dafür sorgen, dass die nächste Documenta nicht mehr derart gegen die Wand fahren kann.
Die Documenta Fifteen hingegen ist, wie es aussieht, kaum noch zu retten. Wo sollen sie herkommen, die Experten, die Vermittler, die Bildungsleute, die den schwierigen Dialog um Judenfeindlichkeit und Israelkritik jetzt führen sollen, wenn niemand sie holt? Wer soll mit den Besucher:innen diskutieren, wie der Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, Christoph Heubner, es am Samstag fordert?
Selbst Hoffnungsträger wie der Frankfurter Philosoph Meron Mendel, der sich bereit erklärt hatte, weitere kritische Kunstwerke der Documenta zu begutachten, suchen das Weite.
Meron Mendel hält das Verhalten der Documenta für neokolonial
Mendel hat inzwischen in mehreren Interviews seinen Rücktritt begründet, der Prozess kam schlicht nicht in Gang, er habe den Eindruck, die Aufarbeitung werde von Schormann aufgeschoben. Der Kontakt zur Kuratorengruppe Ruangrupa etwa kam nur zustande, weil Mendel ihn auf privaten Wegen herstellte. Mendel sagte der Berliner Zeitung, er halte die Documenta- Leitung für „neokolonial“. Er vermutet, dass man Ruangrupa nicht zu Wort kommen lassen will. Nachdem er hingeworfen hatte, folgte kurz darauf Hito Steyerl.
Die 56-jährige Medienkünstlerin ist einer der wenigen Stars der Documenta Fifteen. Ihre Filminstallation im Naturkundemuseum Ottoneum in Kassel ist neben den aktivistischen Beiträgen, den Parties und Workshops der Künstlerkollektive am ehesten das, was sich der westliche Besucher unter einem Weltkunstausstellungsbeitrag vorstellt.
Steyerls Werk wurde nicht aus dem Budget der Lumbung-Member, wie Ruangrupa die beteiligten Kollektive nennt, bezahlt, sondern von der Galerie der Künstlerin. Genau die Art von Ökonomie, die Ruangrupa für die Documenta umgehen will.
In einer Email forderte Steyerl, ihr Werk abzubauen, auch sie hat das Vertrauen in die Leitung verloren, glaubt nach Mendels Absage nicht mehr an eine differenzierte Aufarbeitung des Antisemitismus-Themas. Das hat eine hohe Signalwirkung. Wer weiterhin dabei ist, trägt den Makel Antisemitismus irgendwie mit. Seit Freitagabend sind Steyerls Videoinstallationen im Ottoneum tatsächlich weg, sie wurden demontiert.
Die Künstlerin hatte in ihrer Email auch auf „unsichere und unterbezahlte Arbeitsbedingungen für Teile des Personals“ verwiesen, was Ruangrupa zusätzlich in Misskredit bringt, obwohl die prekären Arbeitsbedingungen vermutlich nicht erst mit ihnen im deutschen Kunstbetrieb angekommen sind.
Im Kulturausschuss des Bundestages in der vergangenen Woche sagte Ruangrupa-Mitglied Ade Darmawan aber auch, die größte Herausforderung sei es, bis zum Ende der hundert Tage die Sicherheit aller Beteiligten zu gewährleisten. Nicht nur das Kuratorenkollektiv wird bedroht.
In lokalen Medien und den sozialen Netzwerken war zu lesen, die queere, indische Gruppe Party Office habe ihr Live-Programm abgesagt, weil beteiligte Künstler:innen in Kassel von „transphobischen Männern“ angepöbelt und bedroht werden. Auch darum kümmern sich, wie die Betroffenen berichten, niemand. Einer der Angegriffenen habe Kassel bereits verlassen. Weitere werden folgen, wenn so fahrlässig nichts getan wird.