Die Riviera gleich hinter Köpenick
Ruinen sind sichtbar gewordene Zeit. Stolze Bauten und Lieblingsorte zerfallen, einstige Kostbarkeiten werden zu Schrott. Die Relikte der Vergangenheit entzünden die Fantasie. Gedächtniskirche, Anhalter Bahnhof: Berlin hat Ruinen als Wahrzeichen. Auch wenn die Stadt längst nicht mehr ruinös aussieht, hat der Zahn der Zeit Spuren hinterlassen. Unsere Sommerserie folgt ihnen.
Das Tor ist verschlossen. Ein gutes Zeichen. Denn wäre es geöffnet, würde das bedeuten: Hier bleibt alles so, wie es ist – marode und verrostet. Das geschlossene Tor aber signalisiert, dass die Bauarbeiten begonnen haben, endlich. Man glaubt es kaum, aber: Das Strandbad Müggelsee wird tatsächlich restauriert.
Noch Anfang Juni konnte man durch das Tor hindurchgehen. Und das Szenario auf sich wirken lassen, dass Martin Wagner als Stadtbaurat Ende der 1920er Jahre ersonnen hat: Hinter dem Eingangsgebäude weitet sich der Blick, öffnet sich zur Spiegelfläche von Berlins größtem See, wird automatisch auf die sanfte Kuppe der Müggelberge gelenkt, mit 114 Metern die höchsten natürlichen Erhebung im Stadtgebiet.
Natürlich, nicht mehr als ein kleiner eiszeitlicher Höhenrücken, in Bayern würde er nicht mal als Hügel durchgehen. Hier im Flachland entfaltet er eine andere Wirkung. Bitte keine Polemik, natürlich sind die von Hochgebirgswasser gespeisten oberbayrischen oder oberitalienischen Alpenseen viel dramatischer, aber welche Großstadt hat schon so ein Gewässer wie den Müggelsee in Reichweite, immerhin vier Kilometer breit, kreisrund und kiefernumstanden? Wie er sich da unter nordischem Himmel erstreckt, entwickelt er ganz eigene Reize.
Feuchtigkeit und Salz krochen schon bald ins Mauerwerk
„Wer einst die Geschichte des Berliner Städtebaus zu schreiben hat, der wird vor allem die Feststellung machen müssen, dass das Berlin von 1870 bis 1920 fast vollkommen vergessen hat, dass es am Wasser liegt“, schreibt Martin Wagner im Juli 1930 in der „Deutschen Bauzeitung“. Mit den beiden großen Strandbädern in natürlicher Umgebung, dem am Wannsee und dem am Müggelsee, wollte er den Berlinern ein Stück weit das Bewusstsein ihrer Lage zurückgeben – und den Arbeiterschichten ein Urlaubs- und Freiheitsgefühl ermöglichen. Das war dringend nötig. Eine Million Menschen mehr als 2021 lebten damals in Berlin, viele ohne moderne Waschgelegenheit. Als „Riviera des Berliner Ostens“ wurde das Strandbad bei der Eröffnung 1930 gefeiert.
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Wagner hat eine filigrane, geschwungene Anlage in Stahlbeton-Konstruktion entworfen, mit einem flachen Eingangsgebäude am Fürstenwalder Damm, zwei arkadengeschmückten Flügeln, die einen ovalen Platz umfassen, und einer elegant sich nach unten verbreiternden Treppe zum Strand als Scharnier und Mittelpunkt.
Die Architektur folgt der natürlichen Krümmung des Ufers. Doch Wasser kann bekanntlich Segen und Fluch zugleich sein. Feuchtigkeit und Salz krochen schon bald ins Mauerwerk, Risse traten auf. Vor allem die Terrasse, die als Dach der Flügelbauten fungiert, machte und macht Probleme.
„Aus Aufzeichnungen wissen wir, dass es ab 1936 immer wieder zu Schäden kam, derer man quasi nie Herr geworden ist“, erklärt Jessica Locke, Leiterin des Hochbauamts Treptow-Köpenick und bis 2019 Projektsteuerin für die Renovierung des Strandbads.
Zerfall im Zeitlupentempo
So verfiel die Anlage über mehrere Jahrzehnte im Zeitlupentempo, während sie gleichzeitig ununterbrochen in Betrieb war. 2006 wollten die Bäderbetriebe die Reißleine ziehen und sie dichtmachen. Der Bezirk schlüpfte in die Rolle des Retters und übernahm, doch die Mittel zur Sanierung hatte der natürlich nicht. So verrichteten Schimmel und Nässe weiter ihr stummes Werk.
Doch das, worauf es ankam – das Baden – war hier immer möglich, sogar bei freiem Eintritt, mit dem Charme einer Ruine im Hintergrund. Erst 2016, platzte der Knoten mit einer Zusage von Kulturstaatsministerin Monika Grütters, vier Millionen Euro aus dem Denkmalpflegeprogramm der Bundesregierung bereitzustellen.
Und wie das so ist: Wenn einer zahlt, zieht der andere nach. Das Land Berlin trägt die restlichen Baukosten, die insgesamt aktuell mit 12,6 Millionen Euro veranschlagt sind. Nach Jahren der Entwurfsplanung konnten Grütters und Bezirksbürgermeister Oliver Igel am 21. Juli dieses Jahres endlich den Startschuss geben.
Das Bad ist trotz Bauarbeiten geöffnet
2024 soll alles fertig sein. „Ein ambitioniertes Ziel. Das Planungsteam hat die Gebäude umfassend untersucht, so dass wir eigentlich keine Überraschungen erwarten“, sagt Jessica Locke, die am Eingang wartet. Hundert Meter weiter westlich existiert ein provisorischer Zugang, diese scheinbar nebensächliche Information sagt Wesentliches aus über das Strandbad Müggelsee.
Obwohl jetzt Bagger rattern und lärmen, Erdhügel aufschichten und Staub aufwirbeln, obwohl ein Bauzaun die Gebäude vom Strand trennt, ist das Bad geöffnet, planschen Kinder im flachen Wasser. Der marode Zustand und die Arbeiten haben niemanden je davon abgehalten, hierherzukommen. Weil dieser Ort offenbar etwas besitzt, das wichtiger ist als neue Duschen oder schicke Strandkörbe.
Weder Rost noch bröckelnder Putz konnten den Zauber der „Riviera des Ostens“ etwas anhaben. „Die Menschen lieben dieses Strandbad“, sagt Locke – auch für sie ist diese Sanierung mehr als ein Verwaltungsakt, das wird aus ihren Worten spürbar.
Ähnlich wie am Wannsee ist auch hier das Gebäude in einen Hang hineingebaut („erdberührt“ nennt es die Fachfrau) und deshalb auf der Rückseite schräg, um dem Druck standhalten zu können. Man kann die Rückwand sehen, Bagger haben sie freigelegt. In den Boden sind Stahlstreben gerammt, die den Hang zurückhalten, damit die Betonwand mit Bitumen neu abgedichtet werden kann.
Die Treppe zum ovalen Platz wird verschwinden. Es ist nicht mehr die, die Wagner bauen ließ, sondern eine schlichtere Nachfolgerin aus den 1970er Jahren. Jetzt soll die ursprüngliche Treppe zurückkehren, deren Ansatz sich weiter hinten befand, so dass sie den Platz weniger stark zerschneidet als bisher.
Einige Details werden im Original wiederhergestellt
Dort unten, wo sich noch im Juni Berlinerinnen und Berliner mit Currywurst, Pommes und Pilsener versorgten, ist kaum ein Stein auf dem anderen geblieben. Vielmehr lagert der Schutt in großen Haufen auf dem Pflaster. Die Gastronomie ist ausgelagert in Container. Die Flügelbauten, die neben Imbissen einst Umkleiden und ein Restaurant beherbergten, sind bis aufs Skelett entkleidett.
An vielen Stahlbetonstützen wird verrostetes Bewehrungseisen sichtbar. Es liegt dicht unter der Oberfläche, für Wasser leicht erreichbar. Locke sagt, dass der Stahl je nach Betonart eine Mindestüberdeckung von vier Zentimetern haben muss, in den 1920er Jahren war das offenbar anders.
Um zusätzlichen Platz zu gewinnen, wurden die beiden Arkadengänge 1976 mit Fenstern verschlossen. Der westliche Flügel hat sein Glas in den 90er Jahren verloren, der östliche seines bis vor kurzem behalten. Künftig kann man in beiden Gängen wieder an der frischen Luft flanieren.
Es wird mehr Raum für Natur geben
Auch ein langer hölzerner Steg ins Wasser, der zur Erbauungszeit bestanden hat, wird angelegt. Die hässliche Uferkante aus Beton, die einst verhindern sollte, dass die Strömung den Sandstrand nach und nach wegspült, ist 2015 verschwunden. Überhaupt sollen hier, in der Wasserschutzzone II, viele versiegelte Flächen befreit, der Natur Raum zum Atmen zurückgegeben werden.
Auch die originale Farbgebung der Gebäude, die in einem griechisch anmutenden Weiß-Blau gestrichen sind, kehrt zurück. Restauratoren haben unter dem Putz Reste entdeckt, die beweisen: Vor 100 Jahren trug das Strandbad Müggelsee ein aprikosenhaftes Gelb.
„Eine der letzten Zeitzeuginnen, sie war im Eingangsgebäude des Strandbads aufgewachsen, konnte uns das bestätigen“, sagt Jessica Locke, die sich auch darüber freut, dass das Bad künftig ganzjährig, auch im Winter, betrieben werden soll. „Das wird schön“, sagt sie beim Abschied fröhlich zum Reporter. Der sich jetzt erstmal auszieht. Und badet.