Zündschnüre der Welt
Um zu verstehen, was gerade in Afghanistan passiert, kann es hilfreich sein, sich ans Ende des Vietnam-Kriegs zu erinnern. Auch dort waren die USA nach jahrzehntelangem Engagement gescheitert, vor allem, weil die Regierung den Rückhalt in der eigenen Bevölkerung verloren hatte. Die Bilder, die den Start des letzten Hubschraubers vom Dach der US-Botschaft zeigten, sind bis heute das Symbol eines Desasters.
Aber markiert der Abzug der Nato-Truppen aus Afghanistan, von dem keine ähnlichen Bilder existieren, eine Zäsur? Herfried Münkler bezweifelt das. Gerade der Vergleich mit Vietnam spricht für ihn dagegen, dass die Heimholung der westlichen Truppen aus Afghanistan ein „Geschichtszeichen“ sein könnte. Dafür sind die Folgen, die daraus hervorgehen, zu marginal. Im Rückblick, so Münkler, wäre es besser gewesen, wenn die Soldaten schon 2003 abgezogen wären, als al-Kaida zerschlagen worden war.
Doch die USA und ihre Verbündeten reichte das nicht, sie wollten eine neue Weltordnung durchsetzen, zu der die Einhaltung der Menschenrechte gehört. Ein Experiment, das misslang. „Die liberalen Werte werden auf absehbare Zeit nur im Westen und in den ihm zugehörigen Räumen gelten“, prophezeit Münkler in einem Essay, den er für die „Neuen Zürcher Zeitung“ geschrieben hat.
Doch Geschichte verläuft im Zickzack, das zeigt sich am Beispiel Vietnam. Das Land fühlt sich inzwischen von China bedroht und sucht Unterstützung von den USA. Der Abzug der US-Truppen hat, so Münkler, zu einem „paradoxen Ergebnis“ geführt: Die Sieger des Kriegs wenden sich vom ehemaligen Verbündeten ab und nähern sich dem einstigen Feind an.“ Ob sich ein ähnliches Wunder irgendwann auch in Afghanistan ereignen kann?
Über Kriege, Krisen und Konflikte schreibt kaum jemand im deutschsprachigen Raum so profund und pointiert wie Herfried Münkler. Der Politikwissenschaftler, der bis zu seiner Emeritierung vor fünf Jahren an der Berliner Humboldt Universität lehrte, hat Standardwerke über den Ersten Weltkrieg und den Dreißigjährigen Krieg, Thomas Hobbes und die Mythen der Deutschen geschrieben, kommentiert aber immer wieder auch in Zeitungen die laufenden Ereignisse.
Seine Produktivität ist erstaunlich
Mit seinem Buch „Die neuen Kriege“ reagierte Münkler 2002 auf die Anschläge vom 11. September. Darin beschreibt er, wie die klassischen symmetrischen Auseinandersetzungen zwischen Mächten von asymmetrischen Formen der Gewalt abgelöst werden. Die Staaten haben das Kriegsmonopol verloren, seitdem Terrornetzwerke wie der „Islamische Staat“ oder die Taliban Zulauf finden. Ganz neu, auch das hat Münkler analysiert, ist das Phänomen nicht.
Warlords und Söldnertruppen gab es bereits im Dreißigjährigen Krieg, und angefacht wurde der Konflikt schon damals von der Überzeugung, dass es nur einen alleinseligmachenden Glauben geben könne.
„In der Welt existieren viele Zündschnüre, aber zum Glück werden nicht alle angesteckt“, hat Münkler in einem Interview gesagt. Opfererzählungen, die über Generationen weitergegeben werden, können eine „Lizenzfunktion für forcierte Gewalt und Grausamkeit“ bekommen. Darin unterscheidet sich das 21. nur wenig vom 17. Jahrhundert.
Dass sich Münkler, der 1951 in der mittelhessischen Stadt Friedberg zur Welt kam, mindestens so sehr für die Vergangenheit wie für die Gegenwart interessiert, bewies er bereits mit seiner Dissertation, die er dem Renaissance-Denker Machiavelli widmete.
Den Lehrstuhl für Theorie der Politik, den er ab 1992 an der Humboldt Universität inne hatte, behielt er, als ihm ein Ordinariat in Zürich angeboten wurde. Seine Produktivität ist erstaunlich. Neben Aufsätzen für Fachzeitschriften, Handbüchern und Lexika hat er mehr als 20 Bücher veröffentlicht, einige davon gemeinsam mit seiner Frau, der Literaturwissenschaftlerin Marina Münkler.
Von der politischen Theorie, seinem ursprünglichen Metier, bewegte Münkler sich mehr und mehr in Richtung Ideen- und Kulturgeschichte. Zu seinem 70. Geburtstag erscheint nun ein 700-Seiten-Werk, das sich mit drei der größten und umstrittensten Köpfe des 19. Jahrhunderts beschäftigt: Karl Marx, Richard Wagner und Friedrich Nietzsche.
Alle drei betrieben Umsturzprojekte, alle drei schufen Werke, die bis heute nachwirken. In einem Jahrhundert der Unsicherheiten, schreibt Münkler, hätten sie sich „auf die Suche nach neuen Gewissheiten und Sicherheiten“ gemacht. Keine Bange, Herfried Münkler betreibt keinen Geniekult. Er interessiert sich vor allem für die Wirkungsmacht der drei Männer und die Vieldeutigkeit ihres Erbes.