Ukrainisches Kriegstagebuch (184): In Bautzen gegen die Finsternis ansingen

16.12.23
Seit Jahren ist mein Tourplan ein unübersichtliches Durcheinander. Nach einer Struktur hinter meinen chaotischen Reisen zu suchen, ist zwecklos. Auch dieses Jahr war voller verrückter Momente – zweimal innerhalb einer Woche von Berlin nach München und wieder zurück, zum Beispiel, oder ein 26-stündiger Aufenthalt in Odessa sowie eine nächtliche Zugfahrt von Mannheim nach Görlitz, gefolgt von einer Rückreise am Abend per Flixbus aufgrund des Bahnstreiks.

Daher fühlt es sich ungewöhnlich an, genau nach einem Jahr Pause diese Woche nach Bautzen zurückzukehren. Und doch macht diese Regelmäßigkeit eigentlich Sinn – im zweiten Jahr hintereinander bin ich eingeladen, eine Weihnachtsveranstaltung mit Kindern vorzubereiten.

Es mag merkwürdig klingen, aber in meinen Gedanken sind Bautzen und der Donbass fest miteinander verbunden. Dafür gibt es einen ganz konkreten Grund: Einige meiner jungen Kolleginnen, mit denen wir im Jahr 2020 in Mykolajiwka und Popasna Songs für das Album „New Donbass Symphony“ geschrieben und aufgenommen haben, sind im vergangenen Frühling ausgerechnet in Bautzen untergekommen. Dabei half ihnen der Regisseur Georg Genoux, der seit 2014 jedes Jahr in den Donbass reiste, um dort Theater-Projekte mit Kindern zu entwickeln. Inzwischen leitet Georg das interkulturelle soziotheatrale Thespis-Zentrum in Bautzen, wo ukrainische Kinder oft an verschiedenen Projekten teilnehmen.

Mascha und Ksuscha rappen mir den kompletten Text des Titelsongs vor

Im Oktober 2022 war ich hier, um die Lieder von „New Donbass Symphony“ endlich live aufzuführen. Die ersten Proben für dieses Konzert fanden im Dezember 2021 in der Aula der Schule Nr. 3 in Mykolajiwka statt. Damals habe ich die singenden und tanzenden Jugendlichen mit meinem iPad aufgenommen – weder sie noch ich hätten erahnen können, dass wir uns nur einige Monate später hier in Ostsachsen wiedersehen würden, während die Schule bereits zum zweiten Mal im Laufe des Krieges von russischen Raketen zerstört wird.

Heute zeige ich den Kindern das Video aus Mykolajiwka, weil sie unbedingt ein paar dieser Songs beim Weihnachtskonzert nächsten Donnerstag aufführen möchten. Obwohl sie deutlich jünger sind als die ursprüngliche Besetzung von „New Donbass Symphony“ und nicht alle aus dem Donbass kommen, kennen sie die Lieder auswendig und sind äußerst enthusiastisch. Es scheint, als hätte das Album in Bautzen und Umgebung Kultstatus erlangt, denn Mascha und Ksuscha rappen mir spontan den kompletten Text des Titelsongs vor.

Ich hoffe, dass Albina und Viola, die 2020 das Original in Popasna mitgeschrieben und gesungen haben, ebenfalls zum Konzert nächste Woche kommen. Anhand der Fotos, die mir in den Instagram-Profilen meiner dortigen Bekannten begegnen, liegt nicht nur die Schule, in der wir aufgenommen haben, sondern auch die ganze Stadt Popasna in Trümmern. Seit Mai 2022 ist sie von den russen besetzt.

Artem spielte im vergangenen Jahr die Hauptrolle. Jetzt ist er wieder in der Ukraine.
Artem spielte im vergangenen Jahr die Hauptrolle. Jetzt ist er wieder in der Ukraine.

© Alisa Kuznetsova

Albinas Tagebuch, in dem sie über die ersten Wochen des großen Krieges berichtete, wurde letztes Jahr in der „Süddeutschen Zeitung“ abgedruckt und war auch auf der Webseite der „Sendung mit der Maus“ im Audioformat verfügbar. Albina lebt mit ihrer Familie in Cunewalde und ist derzeit mit Kontrollarbeiten an der Schule beschäftigt, wie man mir gestern im Thespis-Zentrum erzählte. Viola zog nach Dresden und hat eine Ausbildung zur Tattoo-Künstlerin absolviert. Ich bewundere auf Instagram ihre Tattoo-Motive und denke, wenn ich mich jemals tätowieren lassen würde, sollte sie es machen.

Vor exakt einem Jahr haben wir hier „Die Reise zum Licht des Ozeans“ inszeniert, ein kleines Musical, das die Geschichte eines Jungen erzählt, dem die Finsternis das Licht gestohlen hat. Er durchquert das Universum, um es zurückzuholen und singt dabei ein Lied, das wir auch bei unserem Konzert am Donnerstag aufführen werden. Der Text dafür wurde vom Dichter und Musiker Grigory Semenchuk verfasst. Leider wird er dieses Mal nicht dabei sein können, da er derzeit eifrig für die Premiere einer Theaterproduktion in seiner Heimatstadt Lwiw probt, für die er den Soundtrack beigesteuert hat.

Auch der kleine Artem, der die Hauptrolle gespielt hat, wird uns am Donnerstag fehlen. Er ist vor kurzem mit seiner Familie in die Ukraine zurückgekehrt. Während unserer Probe versuchen wir, den Song im Chor zu singen, und dabei wird mir bewusst, dass seine Bedeutung auch nach einem Jahr nichts von ihrer Aktualität verloren hat: „Die böse Finsternis hat mir das Licht geklaut, also muss ich nun aufbrechen, um es zurückzuholen. Und ich hole das Licht zurück!“