Nach dem Elferdrama zeigt England sein hässliches Gesicht

Es endete, so titelte auch die „Daily Mail“ am Montagmorgen, mit Tränen.

Schon wieder musste England nach einem euphorischen Turnier im Elfmeterschießen weinen. Schon wieder war innerhalb von ein paar Minuten die ganze Hoffnung in Schutt und Asche. Die Hoffnung auf den Sieg vor den eigenen Fans. Die Hoffnung auf das Ende der 55-jährigen Titelflaute. Aber auch die Hoffnungen auf ein besseres England.

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„Wir waren ein Leuchtturm, wir haben die Menschen zusammengebracht“, sagte ein etwas fahler Gareth Southgate am Morgen nach dem verlorenen EM-Finale. „Die Nationalmannschaft steht für alle, und das muss weitergehen. Wir haben gezeigt, was dieses Land schaffen kann, wenn wir zusammenkommen.“

So haben es auch andere gesehen. Southgates junge Mannschaft galt für viele als Symbol eines Landes, dessen Stärke in seiner Vielfalt liegt. Mit ihren klaren Botschaften gegen Rassismus und Diskriminierung galt sie als Gegenmodell zu der spaltenden Rhetorik einer populistischen Regierung.

Flut an rassistischen Beleidigungen

Viele Menschen hatten Freude an den Erfolgen dieser Mannschaft, weil sie ihres Erachtens nach für das Beste an England stand. Und irgendwie stimmte das auch.

Trainer Gareth Southgate nahm Jadon Sancho und die zwei anderen Fehlschützen in Schutz, doch das interessierte die vielen…Foto: Nick Potts/PA Wire/dpa

Doch wer gehofft hatte, dass diese Mannschaft ein gespaltenes Land wirklich zusammenbringen könnte, wurde am Sonntagabend auf bitterste Art und Weise enttäuscht. Denn unmittelbar nach ihren entscheidenden Fehlschüssen im Elfmeterschießen gegen Italien wurden Marcus Rashford, Jadon Sancho und Bukayo Saka mit einer Flut an rassistischen Beleidigungen in den Sozialen Netzwerken angegriffen. Das vereinte Land zeigte sich doch wieder gespalten. England zeigte doch sein hässlichstes Gesicht.

Warum ausgerechnet Saka den letzten Elfmeter schießen musste, bleibt ein Rätsel. Es gab erfahrenere Spieler wie etwa Jack Grealish oder Raheem Sterling, die noch nicht angetreten waren. Aber Southgate, der die große Bürde eines verschossenen Elfmeters selbst allzu gut kennt, schickte trotzdem einen 19-Jährigen vor.

Die Regierung verurteil den Rassismus – für viele waren es leere Worte

„Bukayo hat die Unterstützung von uns allen“, sagte Southgate am Montag, und nahm gleichzeitig die volle Verantwortung für die stark kritisierte Schützenreihung an.

Saka hatte ein fantastisches Turnier gespielt, machte sich mit seiner freudvollen und furchtlosen Kreativität erstmals zum weltweit bekannten Namen. Nun wird sein Erfolg von einem Fehlschuss überschattet. Und nun muss er – wie schon Raheem Sterling vor ihm – sehr schnell ein dickes Fell gegen die Rassisten und die zynischen Kulturkämpfer entwickeln.

„Gestern sahen wir die Führungsqualitäten und den Charakter, den wir von Bukayo kennen. Dieser Stolz wurde aber schnell zu Traurigkeit wegen der rassistischen Kommentare gegen unseren jungen Spieler in den sozialen Netzwerken“, schrieb Sakas Verein FC Arsenal in einem Statement und versprach, den Spieler „emotional und praktisch“ zu unterstützen. „Nicht zum ersten Mal müssen wir den Rassismus gegen einige schwarze Spieler verurteilen.“

Italien jubelt, England trauert. Der 19 Jahre alte Bukayo Saka trat als letzter der zehn Schützen an.Foto: Mike Egerton/PA Wire/dpa

Prinz William zeigte sich auf Twitter entsetzt. „Der Rassismus gegen die englischen Spieler nach dem Spiel gestern Nacht macht mich krank“, schrieb er. Es sei völlig inakzeptabel, dass Spieler dieses abscheuliche Verhalten ertragen müssten. „Das muss aufhören und alle Beteiligten sollten zur Rechenschaft gezogen werden.“

Auch die Regierung agierte dieses Mal schnell, den Rassismus zu verurteilen. „Diese Spieler haben es verdient, als Helden gefeiert zu werden, nicht rassistisch beleidigt zu werden“, schrieb Premierminister Boris Johnson. Seine Innenministerin Priti Patel schrieb auch von ihrer „Empörung“ und versprach eine konsequente Reaktion der Polizei.

Politik stellte sich nicht hinter den Kniefall der Mannschaft

Doch das klang in vielen Ohren wie leere Worte. Schließlich hatte es von Johnson und Patel erst vor einigen Wochen einen ganz anderen Tonfall gegeben. Als die selben Spieler am Anfang des Turniers wegen ihres antirassistischen Kniefalls von den eigenen Fans ausgebuht wurden, haben die Politiker es nicht verurteilt. Patel sagte sogar, dass sie die „Gestenpolitik“ des Kniefalls nicht unterstützte, und sprach von den „verheerenden Auswirkungen“ der Black-Lives-Matter-Bewegung.

Es mag keine direkte Verbindung zwischen solchen Kommentaren und den rassistischen Beleidigungen von Sonntagabend geben, aber sie existieren zumindest in derselben Welt. In einem Land, in dem die Regierung antirassistische Bewegungen aktiv verurteilt, ist es vielleicht kein Wunder, dass manche sich nach einem Fußballspiel ermutigt fühlen, schwarze Spieler anzugreifen.

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Am Anfang des Turniers hatte Southgate versucht, seine Spieler zu verteidigen und gleichzeitig eine Brücke zwischen ihren Kritikern und ihren Unterstützern zu bauen. Das war durchaus bewundernswert, und mit seinem ruhigen, besonnenen Führungsstil hat er es tatsächlich geschafft, viele verschiedene Engländer anzusprechen.

Von ihm wurde zuletzt oft gesagt, dass er genau das machen würde, was man sich eigentlich von den politischen Verantwortlichen wünschen würde.

Doch am Ende ist er kein Politiker. Er ist ein Fußballtrainer. Und wenn die Politiker und die Gesellschaft es versäumt haben, Rassismus und Hass seriös zu bekämpfen, dann hat der Fußballtrainer am Ende keine Chance. Es kann, ob man gewinnt oder nicht, eigentlich nur in Tränen enden.