“Toni ist immer fokussiert”
Sascha Bigalke hat mit Toni Kroos in diversen Junioren-Nationalmannschaften bis zur U 19 zusammengespielt. Der gebürtige Berliner ist für die Profis von Hertha BSC einmal in der Bundesliga und dreimal im Europapokal zum Einsatz gekommen. Nach weiteren Stationen beim 1. FC Köln und der Spielvereinigung Unterhaching hat er seine Karriere Anfang des Jahres beendet.
Der 6. September 2007, das Halbfinale der U-17-Weltmeisterschaft in Suwon, Südkorea. Es ist 20.55 Uhr Ortszeit, und Toni Kroos ist wütend. Enttäuscht und mit voller Wucht tritt er zu. Die Eisbox fliegt nur ganz knapp an einem Mitspieler vorbei.
Vier Stunden zuvor ist er noch bester Laune. Im Hotel hören wir zum x-ten Mal „Robbie Williams’ Live Concert at Knebworth“. Die Stimmung ist ausgelassen. Nervös sind wir beide nicht. Wir wollen um jeden Preis ins WM-Finale. Auf dem Weg zum Stadion ist es ruhig im Bus. In der Kabine läuft Musik. Noch eine Stunde bis zum Anpfiff. Toni ist in der Dusche und kickt immer wieder den Ball gegen die Wand. Das ist seine Art, wie er sich auf das anstehende Spiel fokussiert.
Das Aufwärmen spult jeder in seinem Tempo ab. Noch fünf Minuten bis zum Anpfiff. Toni Kroos führt unsere Mannschaft als Kapitän aufs Feld und hält noch eine kurze Ansprache. Besonders emotional ist er nicht. Toni geht mit Leistung voran, nicht mit Worten.
Das Spiel beginnt denkbar ungünstig: Wir liegen schnell durch zwei Fehler unseres Torhüters mit 0:2 hinten. Toni ist sauer, er versucht, das Spiel an sich zu reißen. Und es gelingt ihm. Nach einem tollen Solo verkürzt er selbst auf 1:2. Wir sind zurück im Spiel. Halbzeit. In der Kabine ist es sehr still. Die ersten 45 Minuten waren nicht gut. Heiko Herrlich, unser Trainer, erinnert uns noch einmal an unsere Stärken und schickt uns wieder aufs Feld. In der zweiten Halbzeit probiert Toni alles, um das Spiel im Alleingang zu drehen. Es gelingt ihm nicht. Die Nigerianer bestrafen erneut einen individuellen Fehler. Mit dem Schlusspfiff kassieren wir das 1:3.
Kroos erwartet Leistung – auch von seinen Mitspielern
Die Enttäuschung ist riesig, einige Spieler liegen auf dem Rasen und weinen bitterlich. Toni und ich gehen direkt Richtung Kabine. Fluchend. Wütend. An diesem Abend hat nicht die bessere Mannschaft gewonnen. Es lag auch nicht an mangelnder Leidenschaft. Wir haben verloren, weil wir nicht unsere Leistung gebracht haben. Das weiß Toni, und das macht ihn wütend. Er verlangt von seinen Mitspielern nicht mehr, aber auch nicht weniger, als dass sie zum richtigen Zeitpunkt ihre bestmögliche Leistung abliefern. Er hat das an diesem Abend getan. Viele seiner Mitspieler nicht. Der Tritt gegen die Eisbox ist die logische Konsequenz. Die Wut muss raus. Sofort.
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Drei Tage später. Spiel um Platz drei gegen Ghana in Seoul. Es geht um eine Medaille bei einer Weltmeisterschaft. Toni und ich stehen wieder in der Startelf. Durch einen perfekten Freistoß gehen wir 1:0 in Führung. Torschütze: natürlich Toni Kroos. Nach dem späten Ausgleich gelingt Alexander Esswein in der Nachspielzeit der Siegtreffer für unsere Mannschaft. Nach dem Finale wird Toni Kroos zum besten Spieler des Turniers gewählt. Hochverdient. Zufrieden ist er trotzdem nicht.
Knapp sieben Jahre später. Der 13. Juli 2014, 18:36 Uhr Ortszeit im Maracana-Stadion in Rio. Toni Kroos ist am Ziel. Deutschland ist Weltmeister. Aus unserer U-17-Nationalmannschaft von 2007 ist nur er übrig geblieben. Im Finale gegen Argentinien steht er 120 Minuten auf dem Feld. Dieses Mal geht nicht nur er mit Leistung voran, die ganze Mannschaft tut es. Und in Deutschland sitzen 34,65 Millionen Menschen vor dem Fernseher. Auch ich feiere, 10 000 Kilometer von Rio entfernt in Berlin, euphorisch auf der Couch. Als ich mich an unser gemeinsames WM-Turnier erinnere, muss ich laut lachen. Der Robbie-Williams-Fan hat es tatsächlich geschafft.
Ein paar Jahre später sitze ich erneut vor dem Fernseher und schaue mir den Film über seine Karriere an. Wieder muss ich lachen. Robbie Williams hat es sich nicht nehmen lassen, in dem Film mitzuwirken. Er fleht ihn an, zu seinem Lieblingsverein Manchester United zu wechseln. Toni Kroos hat mittlerweile mehr als 100 Länderspiele für Deutschland gemacht. 2018 ist er zu Deutschlands Fußballer des Jahres gewählt worden. Mit Real Madrid hat er allein dreimal die Champions League gewonnen.
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Ob das so abzusehen war? Um Titel zu gewinnen, braucht es auch eine gewisse Portion Glück. Aber dass Toni Kroos am Ende seiner Karriere für ein Jahrzehnt bei Real Madrid, dem aus meiner Sicht größten Klub der Welt, gespielt hat, das ist für mich keine Überraschung. Damit du so lange auf dem höchsten Niveau überlebst, musst du immer dann Leistung bringen, wenn es drauf ankommt – und wenn deine Konkurrenz diese Leistung eben nicht bringt. Toni hat das Talent zu erkennen, was seine Mannschaft zu welchem Zeitpunkt braucht. Er gibt das Tempo des Spiels vor.
Taktisch ist er bestens ausgebildet, was nicht zuletzt ein Verdienst seines Vaters Roland Kroos ist, der ihn in früher Jugend trainiert hat. Sein Bruder Felix betont immer wieder, dass Toni nie nervös ist. Das stimmt wirklich. Und all diese Eigenschaften machen Toni zu einem Führungsspieler, obwohl er nach wie vor kein Mann der lauten Worte ist. Wenn doch, dann nur, um die Sinne seiner Mitspieler zu schärfen und sie zu der Leistung anzustacheln, die notwendig ist, um ein Spiel zu gewinnen.
Leider ist unser Kontakt über die Jahre abgebrochen, was sicherlich auch daran liegt, dass Toni bei Real schon seit vielen Jahren gefühlt auf einem anderen Kontinent unterwegs ist. Wer jedoch seinen Instagram-Account verfolgt, der erkennt schnell, dass er immer noch vor allem eines ist: fokussiert. Privat weiß er, auf wen er sich verlassen kann. Über allem steht seine Familie, das war früher so, und das wird auch in Zukunft so sein.
An Kroos führt kein Weg vorbei
Mir persönlich hat es großen Spaß gemacht, mit ihm gemeinsam auf dem Feld zu stehen. Schon in der Jugend hat er große Ansprüche an seine Mitspieler gestellt. Nicht alle konnten diesen Ansprüchen gerecht werden. Mich hat er erfreulicherweise akzeptiert, weil ich damals fußballerisch auf einem ähnlich hohen Niveau gespielt habe. Wir haben uns beinahe blind verstanden und durch unser Zusammenspiel einige Partien zu unseren Gunsten entscheiden können.
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In der Jugend haben wir beide auf der Zehnerposition gespielt. Dadurch wusste jeder von uns oft schon im Voraus, was der andere gleich für einen Pass spielen wird. Tonis sportliches Idol war Johan Micoud, der Regisseur seines damaligen Lieblingsvereins Werder Bremen. In den folgenden Jahren hat Toni selbst sein Spiel allerdings nach und nach verändert.
Während seiner anderthalbjährigen Leihe nach Leverkusen kam er unter Jupp Heynckes, dem womöglich wichtigsten Trainer seiner Karriere, oft auf dem Flügel zum Einsatz. Dort zeigte er mit Anfang 20 seine Qualitäten im Eins-gegen-eins sowie seine Torgefahr. Beim FC Bayern München zog es ihn dann nach und nach auf die Achter- beziehungsweise Sechserposition zurück. Seine Torgefahr ist dadurch geringer geworden, sein Beitrag für die Mannschaft ist es nicht.
Gefährliche Standards – wie 2007 im Spiel um Platz drei gegen Ghana – gehören nach wie vor zu Tonis Stärken. Punktgenaue Pässe wie in der abgelaufenen Champions-League-Saison vor Reals Tor zum 1:0 gegen den FC Liverpool sind keine Seltenheit. Überhaupt lässt sich auch mit Zahlen belegen, dass viele Vorurteile gegen ihn nicht der Wahrheit entsprechen. Die Bezeichnung Querpass-Toni ist völliger Quatsch. Er ist noch immer der Spieler, der pro Partie die meisten Gegner überspielt, vor Joshua Kimmich, der mit ihm in der Nationalmannschaft spielt und aktuell einer der besten Mittelfeldspieler der Welt ist.
Joachim Löw hat bei der Europameisterschaft, seinem letzten Turnier als Bundestrainer, die Qual der Wahl, wie er das Mittelfeld besetzen soll, vor allem im ersten Gruppenspiel gegen Weltmeister Frankreich. Auch für Toni Kroos ist es mit jetzt 31 Jahren vielleicht schon das letzte Turnier auf der ganz großen Fußballbühne. Ich bin sehr gespannt, ob er auch noch den letzten Titel, der ihm in seiner beispiellosen Trophäensammlung fehlt, gewinnen wird. Dass Toni am Dienstag gegen die Franzosen in der Startelf stehen wird, davon bin ich überzeugt. Und davon, dass er wie immer versuchen wird, mit Leistung voranzugehen, erst recht.