Die verkümmerte Sportnation Deutschland
Neulich an einem Sonntag in der Anzengruber Straße in Berlin-Neukölln. Kinder malen Kreidebilder auf den Asphalt, sie fahren Roller oder liefern sich ein Fußballspiel mitten auf der Straße. Die Eltern stehen daneben und unterhalten sich. Es herrscht die Atmosphäre eines großen, friedlichen Familienfestes. Normalerweise düsen hier die Autos, einige davon mit laut brüllenden Motoren, die Straße hinunter, um in die berüchtigte und noch sehr viel lautere Sonnenallee abzubiegen. Aber ein Sonntag im Monat ist für die Kinder reserviert. Die Anzengruber ist wie einige anderen Straßen in Berlin dann eine temporäre Spielstraße. Und alle sind sie gut besucht.
Spiel und Bewegung, das ist die einhellige Meinung von Entwicklungsexperten, sind für Kinder unabdingbar. Das Einzige, worüber in diesem Punkt diskutiert wird, ist, wie viel Spiel und Bewegung Kinder brauchen. Das Gesundheitsministerium empfiehlt drei Stunden Bewegung für Kinder pro Tag. Es gibt aber auch Pädagogen, die halten speziell für kleine Kinder acht Stunden für richtig. Sie sagen: Für kleine Kinder sollte die Bewegung der Normalzustand sein, und nicht das Sitzen oder Liegen.
Doch Letzteres ist in mehr als einem Jahr Pandemie für viele Kinder und Jugendliche zur Gewohnheit geworden. Schul- und Vereinssport sind mitunter komplett zum Erliegen gekommen. Jüngst kam eine Studie der Universität München zu der Erkenntnis, dass sich Kinder seit Beginn der Pandemie bis zu 60 Prozent weniger bewegt haben als in den Jahren zuvor.
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Am Donnerstag veröffentlichte das Deutsche Kinderhilfswerk eine Forsa-Umfrage, nach der 90 Prozent der befragten Kinder angaben, die Bewegung und den Sport in der Corona-Pandemie vermisst zu haben. Das alles sind bedenkliche Ergebnisse, auf die das Deutsche Kinderhilfswerk gerade mit Blick auf den Weltspieltag aufmerksam machen will, der am heutigen Freitag begangen wird.
Die Bundesregierung müsse jetzt deutlich mehr in den Kinder- und Jugendsport investieren, sagt Holger Hofmann, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerkes. Er hat sogar einen konkreten Vorschlag, wie der Beitrag der Politik aussehen könnte: „So sollte sie unter anderem jedem Kind ein Jahr lang den kostenfreien Zugang zu einem Sportverein ermöglichen.“
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Der Vorschlag erscheint auf den ersten Blick kühn. Viele der insgesamt rund 88 000 Sportvereine in Deutschland sind finanziell arg limitiert, einige haben gar existenzielle Sorgen. Vor allen Dingen aber laufen ihnen die ehrenamtlichen Mitarbeiter weg. Und dann ist da noch die teils marode Sportinfrastruktur. „Es braucht eine große Anstrengung der Politik, es muss jetzt richtig Geld in die Hand genommen werden“, sagt Claudia Neumann, Referentin für Spiel und Bewegung beim Deutschen Kinderhilfswerk. Bliebe die Unterstützung aus der Politik aus, könnte dies auch noch in vielen Jahren negative Folgen für die Kinder und Jugendliche haben, warnt sie.
Zumal schon vor Ausbruch des Virus die vermeintliche Sportnation auf breiter Ebene gar nicht so gut in Form war. Laut der aktuellsten Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS) sind 15,4 Prozent der 3- bis 17-Jährigen übergewichtig oder gar fettleibig. Auch die motorische Leistungsfähigkeit stagniert auf niedrigem Niveau. Die meisten Kinder und Jugendlichen können nicht länger als eine Minute auf einem Bein stehen, viele schaffen keine Rumpfbeuge.
Die jungen Menschen des Landes, in dem Friedrich Ludwig Jahn das Turnen erfand, sind steif wie Bretter. Und die Pandemie verschlimmerte die Lage erheblich. Immer wieder hatte es in den vergangenen Monaten Vorstöße aus dem Sport gegeben, den Kinder- und Jugendsport differenzierter von den allgemeinen Maßnahmen zum Infektionsschutz zu betrachten. Ihn nicht per se dichtzumachen. Doch die Forderungen zum Beispiel von der Deutschen Sportjugend nach ein paar Freiheiten für den Kinder- und Jugendsport wurden nicht berücksichtigt. Kampfsportarten wie zum Beispiel Judo, in denen die Sportler in direktem Körperkontakt sind, wurden gleich bewertet wie etwa Badminton, eine Sportart, in der die Spieler recht weit voneinander entfernt stehen.
Nicht nur der Sport zeigte sich enttäuscht von der Politik. Besonders Kinderärzte schlugen Alarm. Sie stellten bereits eine Zunahme von Adipositas fest. Dabei dürften die wahren Folgen des Pandemie-Jahres erst in den kommenden Monaten bekannt werden.
„Es hätte differenzierter vorgegangen werden sollen“, sagt Claudia Neumann vom Deutschen Kinderhilfswerk. „Die Kinder wurden nicht als Subjekte, sondern vor allem als Objekte betrachtet, die ein Mindestmaß an Schulbildung und Betreuung erhalten sollten und im Wesentlichen als potenzielle Krankheitsüberträger infrage kommen.“
Doch auch Neumanns Blick soll nicht weiter nach hinten gehen. Der Appell des Deutschen Kinderhilfswerkes soll auf die Relevanz des Themas aufmerksam machen – und die Politik durchaus unter Druck setzen. Vor allem sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche sollen von Unterstützungsleistungen für den Sport durch die öffentliche Hand profitieren. Es dürfe keine monetären Hürden geben, um Sport zu treiben, findet Neumann.
Hürden behindern nicht nur den Zugang zum organisierten Vereinssport. Mehr und mehr rückte in den vergangenen Jahren die sogenannte Alltagsbewegung in den Vordergrund der Debatte ums Sporttreiben. Und mit jedem Jahr verfestigt sich die Erkenntnis, dass es hierzulande diesbezüglich noch viel Nachholbedarf gibt.
Die Versäumnisse der Städteplanungen in den vergangenen Jahrzehnten lassen sich nicht schnell revidieren. Es gibt zu wenig Räume für Bewegung, zu wenige Parks, dafür viel zu viele Straßen. Auch deshalb kommt den Sportvereinen eine solch große Bedeutung zu. „Es gibt nationale Bewegungsempfehlungen vom Gesundheitsministerium“, erzählt Claudia Neumann. „Diese lesen sich auch gut. Doch es hapert an der Umsetzung.“ Viel passiert sei bislang in dieser Richtung nicht. Das könnte nun, bedingt durch die Folgen der Pandemie, anders werden. Der Ball liegt jetzt bei der Politik. Mal sehen, ob sie dieses Mal mitspielt.