Welt aus Papier: Eine besondere Werkreihe von Marion Eichmann

Marion Eichmann arbeitet auf zwei Etagen in einem schneeweißen Atelier in Oberschöneweide. Bekannt ist sie für ihre reliefhaften Motive, die Objekte aus dem Alltag nachbilden, manche in originaler Größe: 2017 machte die Künstlerin Furore mit ihrem „Laundromat“, der exakten Wiedergabe eines Waschsalons. Im Anschluss folgten internationale Aufträge etwa vom Luxuslabel Hermés, für das Eichmann in Paris und Hongkong teils monumentale Schaufenster gestaltete. Ab 2021 durfte sie ein Jahr lang im Deutschen Bundestag arbeiten, mit „Sight.Seeing Bundestag“ entstand ein eindrucksvolles Porträt der Gebäude des Bundestags in Berlin, das sich aus 110 Arbeiten zusammenfügt. Ein Teil der Werke ist dauerhaft im Marie Lüders Haus zu sehen. 

Obwohl die Bilder aus geschnittenem Papier bestehen und oft noch mit farbigen Elementen akzentuiert sind, liegt bei unserem Besuch im Atelier nirgendwo ein Schnipsel. Ihre reliefhaften Impressionen von Berlin, die im Rahmen von „Stadtrundfahrten Berlin“ für den Tagesspiegel entstanden sind, hängen an den Wänden: die Alte Nationalgalerie oder der Bahnhof an der Friedrichstraße mit einer leuchtend gelben Tram, aber auch ein Bechstein-Klavier, für das sie jede Taste einzeln ausschneidet, um daraus eine plastische Collage zu komponieren. Auf einem großen Bogen Papier daneben erkennt man ein Motorrad, schwarz-weiße Linien ahmen die Konturen exakt nach. Man sieht aber auch, dass dieses Bild noch im Anfangsstadium ist, es beginnt immer mit einer Zeichnung.

Wie machen Sie das mit den Proportionen? Zeichnen Sie das Motorrad nach einem Plan oder nach dem Ansehen?
Marion Eichmann: Bei den Objektarbeiten messe ich alles aus. Wenn mir das nicht gelingt wie vor Jahren in einem Casino, wo ich jeden Automaten ausmessen wollte und deshalb auf leichte Skepsis gestoßen bin, muss ich am Ende fotografieren. Dabei ist es mir total wichtig, alles vor Ort mit Skizzen zu erfassen. Das habe ich auch mit einem Porsche 911 gemacht, der zufällig immer wieder vor meinem Atelier parkte. Irgendwann kam sein Besitzer vorbei und wollte wissen, was ich da eigentlich mache.

Für ihre Werkreihe hat Marion Eichmann historische Architektur wie die Alte Nationalgalerie, aber auch urbane Schnittstellen wie den S-Bahnhof Friedrichstraße festgehalten.

© Ronja Falkenbach für den Tagesspiegel, Marion Eichmann, VG Bild-Kunst Bonn 2025

Weil Sie die mit dem Zollstock an seinem Auto hantierten?
Ja, aber ohne es anzurühren. In meiner Arbeit geht es vielmehr darum, genau zu schauen. Für mich beginnt die Kunst mit der Frage: Wie kann ich dieses Auto, eine Tankstelle oder ein Gebäude so darstellen, dass es eine innere Spannung besitzt. Das ist für mich weit mehr als eine Rekonstruktion, ich versuche mir das jedes Mal aufs Neue zu erarbeiten.

Wann wird Ihnen klar, dass ein Objekt sich als künstlerisches Thema eignet? Zwischen dem hyperästhetischen Porsche und der raumfüllenden Papierinstallation „Laundromat“ liegen ja Welten: Das Auto finden viele schön, einen Waschsalon höchstens nützlich. Was interessiert Sie daran?
Ich versuche, nicht zu werten, sondern Dingen gleichermaßen interressiert gegenüberzustehen. Ich liebe Gegensätze und brauche beides, um irgendwo hinzukommen. Mir sind auch die vermeintlich hässlichen Dinge wichtig, weil ich alles zeichnend in Papier umsetze, was uns umgibt. Eine Steckdose gehört ebenso dazu wie ein Notschalter oder eine Mülltonne.

Wenn Besucher etwa einen signalgelben Container aus Papier im Museum sehen, schauen sie sich den ganz anders an. Für mich ist das auch erstmal eine fast abstrakte Grafik. Wenn die Besucher dann wieder gehen, haben sie einen neuen Blick für diese Dinge, die sie sonst kaum wahrnehmen. Genau das reizt mich.

Marion Eichmann in ihrem Atelier in Berlin-Schöneweide

© Ronja Falkenbach für den Tagesspiegel

Die Künstlerin Marion Eichmann lebt und arbeitet in Berlin. Sie schafft großformatige collagierte Bilder, Zeichnungen, Objekte und Installationen aus Papier, ihre Arbeiten sind in zahlreichen international bedeutsamen Privatsammlungen und Museen vertreten.

Größere Werkschauen hatte sie im Coda Museum, in der Kunstsammlung Neubrandenburg, dem Papiermuseum Galerie Stihl, der städtischen Galerie Offenburg und dem Marburger Kunstverein.

2021 wurde sie eingeladen, Arbeiten für den Deutschen Bundestag zu entwickeln. Ein Teil der 110 Werke, die in der Lobby des Reichstagsgebäudes sowie im Verbindungsbüro EU-Parlament Brüssel gezeigt wurden, sind dauerhaft im Marie-Lüders-Haus des Deutschen Bundestags zu sehen.

Bei Artes ist die Ausstellung „Connecting Berlin Marion Eichmann und Christo und Jeanne Claude“ noch bis 1. November zu sehen. In Berlin wird die Künstlerin von der Galerie Tammen vertreten.

Für die Motive Ihrer Werkserie „Stadtrundfahrten Berlin“ haben Sie jedes Gebäude und jedes Objekt direkt vor Ort gezeichnet. Was geschieht anschließend im Atelier?
Eine Menge. Jede Zeichnung besteht aus vielen Ebenen. Zum Beispiel zeichne ich die Zeichnung mehrfach und schneide die Linien aus, um sie dann wieder reliefhaft zu einer Zeichnung zusammen zu collagieren. Die Auswahl, das Spiel mit Licht und Schatten und dem Effekt, dass jedes Motiv nicht bloß flächig ist, sondern ein Bild, in dem sich immer neue Dinge entdecken lassen.

Ich zeichne quasi mit der Schere, abstrahiere und interpretiere das Gesehene, das Papier wird für mich zum Material. Ich schneide weiße und farbige Flächen mit einem Cutter, der Nagelschere oder dem Skalpell aus und muss erst einmal zur neuen Form finden, bevor ich alles aufklebe. Die Collagen bestehen aus einer Vielzahl von zum Teil sehr kleiner Einzelteile.

Gerade im Kontrast zum Digitalen, in dem wir uns befinden, wird Papier ja oft als was Anachronistisches gesehen. Was ist Papier für Sie?
Etwas Kostbares, Wertvolles, vor allem aber auch etwas Naheliegendes. .Ich versuche, die verschiedensten Sachen aus Papier zu machen, gehe ins Objekthafte, ins Malerische oder bleibe in der Zeichnung. Ich muss eigentlich immer etwas in der Hand haben und mag es zum Beispiel sehr, den Tagesspiegel in der Hand zu halten und zu blättern.

Sie haben sicher einen hohen Papierverbrauch.
Ich verbrauche viel Papier, verwende aber jeden Papierbogen komplett. Ich benutze sehr hochwertige, lichtechte, säurefrei Museumspapiere.

Ihre Diplomarbeit war 2002 in einem leeren Laden in Berlin-Mitte zu sehen. Dort haben Sie die Einrichtung und sich selbst mit einem grafischen Strickdesign überzogen. Wie sind Sie von der Wolle zum Papier gekommen?
Für die Diplomarbeit wollte ich einen Raum verfremden. Deshalb kam mir die Idee, mit Stoff zu arbeiten – und natürlich wollte ich ihn selbst herstellen. In der Akademie stand eine alte Strickmaschine, an der ich ein Jahr lang nachts experimentiert habe. Tagsüber war der Raum von den Modestudierenden belegt.

Lorenz Maroldt und Christiane Meixner treffen am 18.9. 2025 die Künstlerin Marion Eichmann in ihrem Atelier in Berlin-Schöneweide

© Ronja Falkenbach für den Tagesspiegel, Marion Eichmann, VG Bild-Kunst Bonn 2025

Sie haben Ihre Kindheit angesprochen, in der Sie bereits gezeichnet haben.
Ich habe eigentlich immer mit Stiften gemalt. Es war ziemlich schwierig, ich weiß das noch so gut, weil ich – vor allem aber meine Eltern – viel Ärger damit hatten. In der Schule hieß es, Ihre Tochter malt immer nur. Für mich gab es aber auch nichts anderes.

Was fordert Sie heraus? Welcher Aufgabe würden Sie sich gern stellen, haben sich aber noch nicht getraut?
Ich hätte große Lust, eine ganze Fabrik nachzubauen, ein Kraftwerk oder einen riesigen Kran eins zu eins, etwas in dieser Richtung. Leider bin ich bereits für die nächsten drei Jahre mit Ausstellungen beschäftigt und müsste mir die Zeit dafür freischaufeln. Es kommen gerade immer mehr Anfragen, und die Arbeit an meinen Bildern ist sehr aufwändig. Ich bin gerade 14 Stunden täglich im Atelier.  Aber beschweren möchte ich mich nicht. Das Schönste für mich ist, die Bilder und meine Kunst zeigen zu können. Und es ist mir wichtig, dass meine Arbeiten öffentlich zu sehen sind.