Alles und noch viel mehr: Pianist Keith Jarrett wird 80

Vermutlich dringt nie wieder ein Ton aus seinem Haus im Warren County von New Jersey an die Öffentlichkeit. Und trotzdem dürfte die Behauptung, dass Keith Jarrett der größte lebende Jazzpianist ist, schwer zu widerlegen sein.

Was er bis zu den beiden Schlaganfällen, die ihn 2018 linksseitig lähmten, an Musik geschaffen hat, reicht für drei Leben. Das Problem ist die Leichtfertigkeit, mit der sich solche Superlative aussprechen lassen.

In den Gesprächen, die der Kölner Pianist Pablo Held in seinem Video- und Podcast „Pablo Held Investigates“ mit Kollegen aus aller Welt führt, gibt es ein Interview mit Ben Street, der diesen Umstand auf seine Weise benennt: Der amerikanische Bassist, der mit bedeutenden Pianisten wie Masabumi Kikuchi und Danilo Perez gespielt hat, nennt Jarrett einen maßlos unterschätzten Musiker.

Was paradox klingt, trifft einen Punkt. Denn die Anbetung, die Jarrett seit einem halben Jahrhundert zuteilwird, korrespondiert mit einer tiefen Unkenntnis dessen, was sein breit gefächertes Genie ausmacht. Die unkritische Kanonisierung seiner Kunst geht einher mit einer Taubheit für ihre Details.

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Für Besucher seiner Konzerte ist es manchmal schwer erträglich, dabei zuzusehen, wie er sich stöhnend und grunzend an seinem Instrument windet. Doch das ist nur zum geringsten Teil Show. Es gehört zu den in den eigenen Körper verlegten Geburtswehen seiner Musik.

Jarrett, so kommt es Ben Street vor, sei Herbie Hancock darin verwandt, dass er sich selbst immer wieder austricksen müsse, um über die eigenen Grenzen hinauszugelangen. Er verhalte sich wie jemand, der in einem Raum gefangen sei und beim Sich-Umsehen hier ein Stofftier, dort ein paar Streichhölzer und dort noch eine leere Wasserflasche entdecke und sich angesichts der vorhandenen Mittel frage: Wie komme ich hier wieder heraus?

Ein Escape-Room als Sinnbild des Improvisierens: Doch Jarrett hat sich nicht nur innerhalb des Jazz aus Zwangslagen zu befreien versucht. Er hat stilistisch jede Tür aufgestoßen, derer er ansichtig wurde.

Es gibt nicht viele Musiker, die einen ähnlich umfassenden Begriff von dem haben, was Musik zwischen Spiritualität und intellektuellem Zugriff, Ritual- und Konzertcharakter sein kann. Ob Jarrett sich von den Kreativitätslehren des Georges L. Gurdjieff faszinieren ließ und dessen „Sacred Hymns“ aufnahm, oder ein ekstatisches Sopransaxophon blies: Jede seiner vielen Seiten hat die jeweils entgegengesetzte geprägt.

Sein zuletzt dominierendes Jazztrio mit Gary Peacock und Jack DeJohnette würde anders klingen, wenn er nicht in den Kosmos von Bach, Händel und Schostakowitsch eingetaucht wäre. Und ein im Mehrspur-Alleingang entstandener Kellerrock-Jam wie auf „No End“, der sicher zu den bloßen Kuriositäten seines Werks gehört, lässt sich nicht ohne das Hippie-Fluidum denken, das er Ende der 1960er Jahre in der Band von Charles Lloyd erlebte.

Jarretts überdimensionale Statur verhindert allerdings, dass viele großartige Pianisten in seinem Schatten stehen. Zum 50. Jubiläum des „Köln Concert“, dem meistverkauften Soloalbum des Jazz, wurde die Marke Jarrett gerade noch einmal kräftig ausgebeutet. In gewisser Weise steht sie ihm aber selbst im Weg. Die Zahl weniger populärer, doch ebenso starker Alben ist immens.