Hauptsache ist der Mensch: Starke Dokumentarfilme beim Festival Dok Leipzig 2024
Das ist genau der Moment, in dem man begreift, welche Kraft im Dokumentarfilm liegt. Im Zeigen dessen, was jenseits von Deep Fakes und KI-Memes, in der wirklichen Welt geschieht. Gerade hat Daniel Abmas Porträt einer Brandenburger Jugendhilfe-Wohngruppe „Im Prinzip Familie“ Premiere im Deutschen Wettbewerb des Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm gefeiert. Da jubelt der knackvolle Saal auch schon den ganz normalen, betreten lächelnden Protagonisten zu.
Den Erziehern Herrn und Frau Wagner nämlich, die zusammen mit einem Kollegen bei der täglichen Betreuungsarbeit der verstörten Jungs beobachtet werden, die in der WG ein stabileres Zuhause finden, als sie es zuvor bei ihren Eltern hatten.
„Ihr macht so eine krasse Arbeit, meinen tiefen Respekt“, erklärt der Regisseur vor seinen antiheldisch auftretenden Helden. Abma, ein enthusiastischer Niederländer, macht keinen Hehl aus dem, was die Absicht seines Empowerment-Films ist: Der Gesellschaft die ansonsten unsichtbare Arbeit der Jugendhilfe zu zeigen, die ganz gewiss „systemrelevant“ ist.
Hauptsache Mensch. Das ist eine klassische, zu seligen Direct-Cinema-Zeiten allerdings deutlich distanzierter umgesetzte Haltung, die bei Dok Leipzig, dem seit seiner Gründung den Menschenrechten in aller Welt besonders verpflichteten Festival, einen festen Platz hat.
Nur, dass für viele Filmschaffende angesichts multipler Weltkrisen und digitaler Bilderfluten Empathie immer häufiger mehr wiegt als die von Altvorderen wie Klaus Wildenhahn beschworene Objektivität, die naturgemäß weniger emotionalisiert.
In den politisch grundierten Dokumentarfilmen „Moria Six“ über die Verurteilung von sechs Jugendlichen wegen des Brandes im Flüchtlingslager Moria und „Valentina and the MUOSters“, der von der Emanzipation einer jungen Sizilianerin in der Nachbarschaft einer von der Bevölkerung bekämpften US-Militärbasis erzählt, ist von Anfang klar, dass es um Verteidigung und Anklage geht.
Was die Mittel angeht, lässt sich in der 67. Ausgabe von Dok Leipzig, dessen volle Vorstellungen auf ein großes Interesse gerade auch eines jungen Publikums schließen lassen, keine künstlerische Erneuerung der Zunft feststellen. Die braucht es angesichts des breiten Bestecks von Alltagsbeobachtungen, Interviews, Archivmaterial oder Landschafts- und Architekturfotografie ebenso wie Reenactment, szenische Fiktionen und Animationen womöglich auch gar nicht.
Nur die technische Qualität der Virtual-Reality-Arbeiten, die in der Zukunftssektion Dok Neuland gezeigt werden, sind nach wie vor stark verbesserungsfähig. Von den zwickenden VR-Brillen mal zu schweigen.
„Flowers of Ukraine“ zeigt eine widerständige Kiewerin
209 Filmen aus 55 Ländern konkurrierten in den vier Hauptwettbewerben um die Leipziger Tauben. Und vielen der hier porträtierten Menschen gebühren Menschenrechts- und Couragepreise, die Herr und Frau Wagner, die sich vom Festivaltumult gänzlich unbeeindruckt zeigen, nie erhalten werden.
Trotzdem bekommen Kriege und Katastrophen durch Leute wie die 67-jährige Kiewerin Natalia ein Gesicht. Sie stellt sich mit sonnigem Gemüt und grünem Daumen in Adelina Borets Filmporträt „Flowers of Ukraine“ genauso gegen die Investoren, die ihr Häuschen und Garten am Rande einer Hochhaussiedlung wegbaggern wollen, wie gegen die russischen Angreifer.
Einen ebenso unverwüstlichen Charakter porträtiert Anna Friedrich in „Lichter der Straße“, neben „Im Prinzip Familie“ der zweite Publikumsliebling im Deutschen Wettbewerb. Friedrich zeigt Menschen, die in Deutschland nomadisch leben – eine Wagenpark-Bewohnerin, Angehörige der Jenischen, einer deutschen Minderheit mit eigener Sprache, die traditionell Marktbeschicker stellt und Magdalena, eine Landwirtin, die seit vier Jahren auf der Walz lebt.
Natalia besitzt ein marodes Häuschen und ihren Garten, Magdalene besitzt ihr Bündel und hält zwei Hunde – und beider Lachen verrät: Sie kennen das Geheimnis eines guten Lebens.
Dass Festivalchef Christof Terhechte als Eröffnungsfilm das neue Werk von Thomas Riedelsheimer auserkoren hat, seit dem Künstlerporträt „Rivers and Tides – Andy Goldsworthy Working With Time“ von 2000, bekannt als meditativer Kinoästhet, ist schon erstaunlich. Hat die Menschheit nicht gerade andere Sorgen, als sich im erneut von Fred Friths Soundtüfteleien untermalten „Tracing Light“ mit der physikalischen Beschaffenheit und der künstlerischen Faszination von Licht auseinanderzusetzen?
Ästhetische Bilder, auch das ist Dokumentarfilm
Im Gespräch verteidigt Terhechte die Entscheidung als eine, die bewusst auch die feinsinnige, ästhetische Qualität von Dokumentarfilmen verteidigt. „Tracing Light“ zeigt Physiker und Künstlerinnen, die Licht erforschen, Terhechte nennt das „eminent politisch, nur eben anders als das, was man üblicherweise ‚politischer Film‘ nennt“.
Was den Nahostkonflikt angeht, hat sich Terhechte, der von 2001 bis 2018 das Forum der Berlinale leitete, mit Bedacht gegen Filme entschieden, die nach dem 7. Oktober entstanden sind. „Die wären mit heißer Nadel gestrickt und unüberlegt“, sagt er. Anders als „There Was Nothing Here Before“ und „I Shall Not Hate“, die im Publikumswettbewerb laufen und beide vor dem Hamas-Angriff auf Israel gedreht wurden.
Unrecht, dass Palästinensern geschieht
In Sachen inhaltlicher Gerechtigkeits-Proporz dokumentieren beide Dokumentarfilme – trotz ihres Versöhnungsgestus – aber Unrecht, dass Israelis Palästinenser antun. Ersterer thematisiert die israelische Siedlerbewegung, letzterer ist ein bewegendes Porträt des heute in Kanada lebenden Arztes Izzeldin Abuelaish.
Abuelaish, eine medienbekannte Figur, arbeitete als palästinensischer Doktor in Israel und verlor bei einem israelischen Angriff drei seiner Töchter. Trotzdem betätigt sich der Arzt weiter als Aktivist für Frieden und wird von israelischen Freunden dabei unterstützt. Eine zur Versöhnung aufrufende Heldengeschichte, in der der israelische Staat und seine Armee schlecht aussehen.
Filme über die Neue Rechte nützen ihr nur
Als Festival, das zu DDR-Zeiten gegründet wurde, widmet sich Dok Leipzig auch immer dem historischen Filmschaffen, Dokumentarfilmen aus Mittel- und Osteuropa und postsowjetischen Erzählungen. Nur Filme zur Neuen Rechten, die man angesichts des Abschneidens der AfD bei den sächsischen Landtagswahlen erwarten würde, gibt es nicht.
Die Auswahl der Festivalbeiträge sei abhängig von den 3350 Einreichungen, sagt Christoph Terhechte. Sicher habe man Filme zu dem Thema zeigen können. „Aber ich habe noch keinen Film über die Neue Rechte gesehen, der nicht der Neuen Rechten mehr geholfen hätte als ihren Gegnern.“ Da ist was dran. Unter seiner Vorgängerin Leena Pasanen war es 2018 anlässlich des Films „Lord of the Toys“ über eine unkommentiert rechtsextreme Sprüche klopfende Youtube-Clique prompt zum Eklat gekommen.
Angesichts apokalyptischer Szenarios, wie sie auch die Dokumentarfilme zu Naturzerstörung beschreiben, unter denen der kolumbianische Beitrag „Morichales“ im Internationalen Wettbewerb unter grollender Musik, aber (fast) ohne Atmo und O-Ton das Treiben von Goldgräbern im venezolanischen Regenwald dokumentiert, ist es geradezu erleichternd, dass es Porträts guter Menschen und Erkundungen physikalischer Phänome gibt.
Oder so eine diffenzierte Langzeitstudie wie „Sonnenstadt“, für die die DFFB-Absolventin Kristina Shtubert seit 2013 immer wieder in die sibirische Taiga gefahren ist, wo sich die Glaubensgemeinschaft des unterdessen inhaftierten Predigers Vissarion niedergelassen hat. Von 40 Protagonistinnen, mit denen sie in neun Jahren sprach, haben es nur vier in den Film geschafft, wie sie im Kino erzählt. So beeindruckend sieht Sorgfalt im Umgang mit Bildern und Geschichten aus.