Die deutsche Leichtathletik in der Krise: Erfolg lässt sich nicht herbeirechnen
Es ist ein Jahr her, als ein Bild die Hindernisläuferin Lea Meyer zeigte, wie sie sich bei einem Sturz kopfüber im Wassergraben befand. Das Bild war gemein, es verlachte die Athletin und die deutsche Leichtathletik. Gleichzeitig stand es stellvertretend für den Zustand der Athletinnen und Athleten hierzulande. Er war ziemlich erbärmlich. Bei den Weltmeisterschaften in Eugene (USA) schnitten die Deutschen so schlecht ab wie noch nie zuvor. 80 Athleten entsendete der Deutsche Leichtathletik-Verband dorthin, nur zwei Medaillen sprangen heraus.
Und nun, 13 Monate später bei den Weltmeisterschaften in Budapest? Droht ein ähnliches Ergebnis. Wenn nicht sogar ein schlechteres. Je näher die am Samstag beginnenden Titelkämpfe heranrücken, desto weniger deutsche Athleten sind dabei. Von zunächst 75 gemeldeten Teilnehmern der deutschen Delegation sind aktuell noch 71 dabei. Die jüngsten Ausfälle: 1500-Meter-Läuferin Katharina Trost und Langstrecken-Medaillenhoffnung Konstanze Klosterhalfen.
Es scheint fast ein Fluch über dem Deutschen Leichtathletik-Verband zu liegen. Schon in den Tagen zuvor hatten die wenigen Spitzenathleten, die es noch gibt, für Budapest absagen müssen. Darunter die einzige echte Goldmedaillenhoffnung, Weitspringerin Malaika Mihambo, sowie der ambitionierte Stabhochspringer Bo Kanda Lita Baehre oder Hindernisläuferin Meyer. Auch die Speerwurf-Größen Johannes Vetter und Thomas Röhler sind nach langwierigen Verletzungen genauso wenig bereit für die WM in Budapest wie Hindernisläuferin Gesa Krause, die vor wenigen Monaten Mutter geworden ist.
Man sei zwar „nicht medaillenfähig, aber doch leistungsfähig“, stufte die deutsche Chefbundestrainerin Annett Stein das Leistungsvermögen des deutschen Kaders kürzlich ein, ganz so, als hinge das eine nicht unmittelbar mit dem anderen zusammen. Die Botschaft Richtung Budapest soll lauten: Schaut nicht auf die Medaillen, sondern auf die Zeiten und Weiten. Es soll also auch beispielsweise ein Finaleinzug der deutschen Sprinterin Gina Lückenkemper beklatscht werden, wenn er denn klappt.
Jedenfalls: Mit Pech allein ist der Zustand der deutschen Leichtathletik nur unzureichend beschrieben. Die großen Zeiten, als die Deutschen speziell in den Wurfdisziplinen viel Edelmetall bei Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen sammelten, sind lange vorbei. Das Erbe des DDR-Sports reichte noch weit in die 2000er-Jahre hinein. Die Erfolge etwa von Diskuswerfer Robert Harting hingen womöglich mit dessen Sozialisierung in der DDR zusammen, ganz sicher aber mit seinem langjährigen Trainer Werner Goldmann, ein Mann, der das DDR-Leistungssportsystem durchlaufen hatte.
Deutschland betreibt einen akademischen Ansatz im Sport
Inzwischen aber ist die DDR weit weg, gefühlt und auch, was das Abschneiden in der Leichtathletik betrifft. Dabei geben sich die Verantwortlichen in den Verbänden alle Mühe. Der Erfolg wird zumindest minutiös geplant, die Deutschen betreiben querbeet durch alle Sportarten einen akademischen Ansatz. Stichwort Potenzial-Analyse-Systematik, kurz: Potas.
Das klingt verschwurbelt und ist es womöglich auch. Potas bedeutet, dass unter Berücksichtigung unzähliger Faktoren jene Sportarten von der Sportförderung besonders profitieren sollen, die für die Zukunft die besten Erfolgsaussichten haben. Es wird viel gerechnet, ehe die Fördergelder ausgezahlt werden. Der Ertrag ist bislang noch nicht sichtbar. Es verfestigt sich der Eindruck, dass es im deutschen Sport sehr verkopft zugeht.
Zumal man den Erfolg offensichtlich nicht herbeirechnen kann. Es braucht vor allen Dingen Eltern, die ihre Kinder fördern, ihnen Mut zusprechen, auch wenn der Leistungssport mit vielen Entbehrungen verbunden ist. Der ehemalige Weltklasse-Hochspringer Carlo Thränhardt sagte dem Tagesspiegel, dass hierzulande bei vielen „der intrinsische Wunsch“ fehle, „aus seinen Möglichkeiten das Beste herauszuholen“. Und wenn Sportlerinnen oder Sportler doch so einen Biss entwickeln wie etwa Gina Lückenkemper oder Johannes Vetter, fehlen die qualifizierten Trainer.
Dennoch gibt es Hoffnung. Auch schon bei den Weltmeisterschaften in Budapest. Speerwerfer Julian Weber befindet sich schon seit langem in Top-Form. Im vergangenen Jahr gewann er Gold bei den Europameisterschaften. Das tat auch Zehnkämpfer Niklas Kaul. Der 25-Jährige ist ein besonderer Athlet, weil er es versteht, im Wettkampf über sich hinauszuwachsen. Er geht – mal wieder – nicht als Medaillenkandidat an den Start und könnte gerade deshalb eine gewinnen. Vielleicht sogar zusammen mit dem erstaunlichen Newcomer Leo Neugebauer. Und dann sind da noch die Diskuswerferin Kristin Pudenz, Shanice Craft und Claudine Vita, von denen jede Medaillenchancen hat.
Auch ein Blick auf die vor wenigen Tagen zu Ende gegangenen Junioren-Europameisterschaften in Jerusalem macht deutlich, dass die deutsche Leichtathletik noch nicht verloren ist. Mit großem Abstand war die deutsche Delegation die erfolgreichste. Zuletzt hatte der deutsche Nachwuchs 2009 ähnlich stark abgeschnitten. Allerdings beschreibt vielleicht nichts besser das Dilemma als diese Wettkämpfe vor 14 Jahren in Serbien.
Denn von den 25 deutschen Medaillengewinnern schafften anschließend nur zwei, der Kugelstoßer David Storl und der Zehnkämpfer Kai Kazmirek, eine beachtliche sportliche Karriere. Für den talentierten Rest war mitunter die Aussicht auf eine extrem anstrengende und ungewisse Laufbahn in der Leichtathletik schlicht nicht attraktiv genug. Aber wer weiß, vielleicht schaffen es gerade die unterschätzten Deutschen in Budapest, Vorbilder für den potenziellen Nachwuchs zu werden.