„Argylle“ im Kino: Blutleere Brutalitäten im Schleudergang
Das Wichtigste vielleicht gleich vorneweg: „Argylle“ ist natürlich ein riesengroßer Unsinn. Das wird schon nach wenigen Minuten klar, wenn der titelgebende Agent (Henry Cavill) mit seinem Buggy durch Häuserwände bricht und ein Muskelprotz (John Cena) dessen Verfolgerin (Dua Lipa) in voller Fahrt vom Motorrad pflückt. Die Kamera fliegt dabei losgelöst von jeglicher Schwerkraft durch ein CGI-gesättigtes Postkarten-Griechenland. Regisseur Matthew Vaughn scheint hinter den irrlichternden Bildern hervorzuraunen: „Entweder du spielst mit oder du kannst Leine ziehen!“ Uns bleibt keine andere Wahl, als uns für ersteres zu entscheiden.
Geradezu durchschnittliche Helden
Nach Blockbuster-Maßstäben ist die Handlung von „Argylle“ sogar einigermaßen verwickelt. Hauptfigur des Films ist nämlich nicht der Titelheld, eine Bond-Parodie mit Bürstenschnitt, sondern Elly Conway (Bryce Dallas Howard), Autorin von Spionage-Krimis, Mauerblümchen und Katzen-Liebhaberin. Sie kommt mit ihren Romanen der Realität etwas zu nahe und wird zur Zielscheibe der Geheimdienste (angeführt von Bryan Cranston). Der Agent Aidan (Sam Rockwell) soll sie beschützen und hofft gleichzeitig, dass Ellys Einfallsreichtum dabei hilft, den Verschwörern das Handwerk zu legen.
Immer wieder springt Regisseur Vaughn zwischen dieser Handlungsebene und den Figuren aus Elly Conways Buch. Argylle jettet um den Globus, seinerseits auf der Suche nach einem Weg, den Geheimdienst auffliegen zu lassen. Die Realitäten spiegeln einander. Vaughn treibt das Hin und Her auf die Spitze: Mitten im größten Tumult verwandelt sich Aidan plötzlich in Argylle – und einen Wimpernschlag später wieder zurück.
Das hat den interessanten Nebeneffekt, dass die hirnrissigen Action-Szenen um Elly und Aidan angesichts der noch hirnrissigeren Action-Szenen aus der Romanwelt nur noch halb so hirnrissig wirken. Der Agent und sie Bestsellerautorin wiederum muten im Gegensatz zu den überdreht-heldenhaften Romanfiguren geradezu durchschnittlich an.
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Vaughn hat das Film-im-Film-Durcheinander sogar noch in unsere Realität ausgeweitet. Vor dem Kinostart erschien bereits eine angebliche Buchvorlage selbigen Titels, geschrieben von einer Debütantin – namens Elly Conway. Internet-Gerüchte, dass sich dahinter Taylor Swift verbergen könnte, hat Vaughn bislang entkräftet. Er besteht aber auf der Existenz der tatsächlichen Conway. Im Abspann des Films ist nichts mehr von einer Vorlage zu lesen. Als Drehbuchautor wird Jason Fuchs aufgeführt, der unter anderem an „Wonder Woman“ mitgeschrieben hat.
Gewaltorgien und kindgerechte Witze
Den Spaß am Fabulieren und Verwirrungstiften kann man Matthew Vaughn jedenfalls nicht absprechen. Tatsächlich türmt er einen abenteuerlichen Twist auf den nächsten, „Argylle“ legt ein halsbrecherisches Tempo vor. Alles rennt, kloppt und schießt durcheinander. Für comic relief sorgen der verlässlich wunderbare Rockwell und Ellys Kater Alfie, die Schottische Faltohrkatze von Vaughns Tochter.
Bei all dem Tohuwabohu fällt es einem Kritiker allerdings auch zunehmend schwerer, hier nicht die Geschmackspolizei heraushängen zu lassen. Klar, alle Filme Vaughns ignorieren jegliche erzählerische Logik und sind hemmungslos gewaltverherrlichend. Diesmal muss man ihm immerhin zugutehalten, dass er auf misogyne Witzchen verzichtet hat (wie der Anal-Sex mit der schwedischen Prinzessin in „Kingsman“).
Von den zynischen Brutalitäten will der Regisseur hingegen nicht lassen. Einmal leitet Aidan die verdutzte Elly an, wie man am besten einen menschlichen Kopf zertritt. Dabei wirkt der Film trotz eines Bodycounts, der locker im dreistelligen Bereich liegen dürfte, sonderbar blutleer. Da werden Horden von Agenten – tatsächlich alles Männer – mit beiläufigen Einzeilern umgelegt, ohne dass Blut spritzt. Mit der nicht minder zynischen Folge, dass „Argylle“ in Deutschland eine Altersfreigabe ab zwölf Jahren bekommen hat.
Wer sich nicht weiter an der Mischung aus Gewaltorgien und kindgerechtem Humor stört, kann immerhin Vaughns Einfallsreichtum anerkennen. Da „Argylle“ zu jenen Filmen gehört, die besser funktionieren, je weniger man vorher über sie weiß, sei an dieser Stelle nur so viel verraten: In der letzten halben Stunde bringt der Regisseur noch einen Shootout als Zeitlupen-Paartanz in pinkem Rauch sowie ein Schlittschuh-Gemetzel auf ölbedecktem Boden unter.
Zu diesem Zeitpunkt steht längst fest, dass dieser überlange Schleudergang von einem Actionfilm frei drehend um ein hohles Zentrum kreist. Entweder verlässt man mit brummendem Schädel das Kino; oder besser noch: Man hat schon vor dem Film alle Synapsen vorübergehend außer Dienst gestellt. Da Vaughn inzwischen ein gewiefter Franchise-Experte ist, droht er im Abspann bereits mit einer Reihe von Fortsetzungen. Kaum anzunehmen, dass Taylor Swift hierfür die Zeit zum Schreiben findet.