Catherine Breillats Film „Im letzten Sommer“ : Die Scham und andere Dinge des Lebens
Es sind Fragen wie Nadelstiche, die Anne (Léa Drucker) ihrer jungen Mandantin stellt. Mit wie vielen Jungs sie schon geschlafen habe, will die Anwältin von der Verängstigten wissen, die sie in einer Vergewaltigungsklage vertritt. Der Anwalt des Täters werde sie als „Schlampe“ hinstellen wollen, erklärt Anne. Sie verlangt jetzt schonungslose Offenheit.
Die weibliche Hauptfigur in Catherine Breillats fünfzehntem Spielfilm hat beruflich alles im Griff, daran lassen die ersten Szenen von „Im letzten Sommer“ keinen Zweifel. Wir lernen die gewiefte Jugendanwältin, Anfang 50, dann als leidlich zufriedene Ehefrau eines älteren Mannes kennen.
Pierre (Olivier Rabourdin) und Anne leben mit ihren kleinen Adoptivtöchtern in einer schicken Villa in der französischen Provinz. Alles perfekt und das Weinglas stets gut gefüllt. Als Pierre seinen ihm entfremdeten Sohn Théo (Samuel Kircher) ins Haus holt, wird der Frieden empfindlich gestört. Der 17-Jährige integriert sich schlecht in die Familie, nur seinen Stiefschwestern ist er zärtlich zugetan.
New French Extremism
Ein Einbruch ins Haus stellt sich als von Théo fingierte Aktion heraus, aber das erfährt nur Anne, die den Delinquenten zur Rede stellt und ihm Stillschweigen verspricht. Wenn Théo sich bessert, so der Deal, bleibt das Vergehen „unter uns“. Ein Fall für die brillante Advokatin? Nein, der Anfang einer Katastrophe, denn bald teilen der hübsche Théo und die reife Anne ein noch brisanteres Geheimnis.
Breillat, spätestens seit „Romance XXX“ (1999) für provokante Geschichten um Sexualität und Gewalt berüchtigt, hat ihren Film um eine fatale Affäre nach zehnjähriger Drehpause realisiert. Neben Gaspar Noé oder Virginie Despentes zählte die Regisseurin zur prägenden Figur des New French Extremism der Jahrtausendwende. Stilistisch ist davon „Im letzten Sommer“ jedoch nichts zu spüren.
Man mag zwar die Sexszenen zwischen dem Paar, das 30 Lebensjahre trennt, als provozierend empfinden, doch Breillat lässt sie mit für sie ungewohnter Dezenz, Wärme und Einfühlung filmen. Das Licht ist weich, Jeanne Lapoiries Kamera verharrt meist auf den Gesichtern. Zeit und Raum sind aufgehoben.
Breillat erzählt von einer Amour fou, ohne den moralischen Zeigefinger zu heben. Freilich regen sich bei Anne Skrupel. Sie will gleich nach dem ersten Mal Schluss machen, gibt Théos Drängen aber immer wieder nach. Weil es ihr „letzter Sommer“, ihre letzte Chance ist? Mit subtil eingesetzten Mitteln verkörpert Léa Drucker eine Frau, die ihre Sexualität und Jugend wiederentdeckt. Mit dem vielversprechenden Samuel Kircher und Olivier Rabourdin ergänzen fabelhafte Mitdarsteller das Beziehungsdreieck.
Eine frühe Beischlafszene der Eheleute misslingt Breillat. Während Pierre sie penetriert, räsonniert Anne über den Liebhaber ihrer Mutter, den sie mit 14 erotisch anziehend fand. Ein Fassbinder-hafter Monolog, der nicht in den Film passt. Und: findet frau jahrzehntelang Männer attraktiv, die älter sind als sie, um sich dann einem adoleszenten Körper hinzugeben? Da hakt’s.
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„Im letzten Sommer“ ist das Remake eines älteren Films – ungewöhnlich für Breillat, die sonst (eigene) Originaldrehbücher vorzog. In der dänisch-schwedischen Produktion „Königin“ von 2019 ist der Sex zwischen dem ungleichen Paar so explizit dargestellt, wie man es von Breillat-Filmen wie „Meine Schwester“ („À ma sœur!“, 2001) kennt. Zugleich hält May el-Toukhys Ursprungsfilm die Zuschauer:innen auf Distanz. Anne (grausam-großartig: Trine Dyrholm) ist dort klar die Verführerin, am Opferstatus des Jungen – der spröde Darsteller setzt dort kaum erotische Signale – gibt es nichts zu rütteln.
„Königin“ tendiert zum eiskalten Thriller, während Breillat ihr Remake mit einigen Drehbuchvarianten die Weichen zum Beziehungsdrama stellt. Im französischen Remake ergreift Théo anfänglich die Initiative. Dass Anne ihren sexuellen Impulsen nachgibt, wird sehr nachvollziehbar.
Überzeugender, mindestens vielschichtiger als ihrer Vorgängerin gelingt Breillat auch der fast identisch adaptierte Wendepunkt. Als ihr heimliches Verhältnis auffliegt, weiß Anne ihren Ehemann geschickt zu manipulieren, Théo gegenüber Pierre in schlechtes Licht zu rücken, die Affäre dreist zu leugnen. Woher diese Chuzpe?
Bei aller Angst vor dem drohenden Verlust ihres Familienglücks spürt man bei Breillat, und nur bei ihr, die Beschämung, die Annes Gegenangriff befeuert. Ihr Innerstes wird nach außen gekehrt. Als Anwältin will sie peinlich genau informiert sein. Jetzt erfährt sie am eigenen Leib, wie grausam-entblößend sich das anfühlt.
Während „Königin“ von Schuldverstrickung handelt, ist „Im letzten Sommer“ nicht zuletzt ein Film über die Scham, das abgründigste aller Gefühle. Ein Fall für Catherine Breillat, die sicher nicht ihren radikalsten, aber einen sehenswerten und gewiss diskursanregenden Film gemacht hat.