Im Gitternetz des 20. Jahrhunderts: Karl Schlögel entdeckt die „American Matrix“

Wie kein anderer Historiker hat Karl Schlögel den sowjetischen und russischen Kosmos am Beispiel von Räumen und Architektur durchmessen. Nachdem er 2017 das 20. Jahrhundert als das „Das sowjetische Jahrhundert“ in Augenschein nahm, scheint er überraschend ins nordamerikanische Paralleluniversum gewechselt zu sein.

20 Jahre nach seiner Grundlagenreflexion „Im Raume lesen wir die Zeit“, dessen Titel Friedrich Ratzel, den Pionier der Anthropogeografie, zitierte, versucht er das sowjetische Jahrhundert als eine Epoche zu lesen, die ohne eine „American Matrix“, wie sein gleichnamiges Buch heißt, kaum denkbar gewesen wäre. Das ist weniger verwunderlich, als es zunächst scheinen mag. Schon deutsche Kommunisten schwärmten von der frühen Sowjetunion als „Sowjet-Amerika“ oder „unserem eigenen technischen Amerika“.

Dabei bahnt er sich den Weg über Berichte prominenter Besucher, allen voran den Klassiker schlechthin, Alexis de Tocquevilles „Demokratie in Amerika“ (1835/40). Schon de Tocqueville sah Amerika und Russland als die beiden Zukunftsmächte. In jenem kämpfe man gegen die Natur mit dem Pflug, in diesem mit Soldaten gegen den Menschen: „Freiheit ist dem einen der Antrieb, Knechtschaft dem anderen.“

Ähnlich der zweite Gewährsmann, der erwähnte Friedrich Ratzel, der in den 1870er Jahren die USA bereiste. Für ihn lief alles darauf hinaus, wie es den beiden Großraummächten durch Verkehrswege gelingen könnte, ihr Staatsterritorium zu erschließen. Folgen Max und Marianne Weber, die anlässlich der Weltausstellung in St. Louis 1904 die USA bereisten und die „Frontier“ erfuhren, das permanente Wegdrängen der Natur (und der Indigenen): „Mit geradezu rasender Hast wird alles, was der kapitalistischen Cultur im Wege steht, zermalmt.“

Schließlich die beiden Russen Ilf und Petrow, deren „Grand Tour“ von 1937, „Das eingeschossige Amerika“, 2013 verspätet auf Deutsch erschien. Sie interessierten sich nicht primär für Wolkenkratzer und Freiheitsstatue, sondern für die Durchdringung des amerikanischen Raums mit Reklame und Firmenlogos, den Zeichen des Konsums wie für Komfort und Service-Kultur.

So vorbereitet, besteigt Schlögel den Greyhound, der „den großen Raum erfahrbar [macht] und jeden noch so fernen Punkt erreichbar.“ Im weiteren Verlauf öffnet er eine Wunderkammer, die auf einer Verdichtung von schier unübersehbaren Mengen von Literatur, künstlerischen Zeugnissen, Wahrnehmungen und Erfahrungen beruht. Schlögels Bewegungen durch den amerikanischen Geschichtsraum sind nach zwei Polen orientiert.

Auf der einen Seite widmet er sich dem Erhabenen: Darunter fällt der Blick auf den Grand Canyon als „Hauptstadt der Natur“ (John Muir) wie der Blick von den Wolkenkratzern des Rockefeller Center, oder die Würdigung des Boulder Damms, der Monument gewordenen Saga der Krisenüberwindung im New Deal. Auf der anderen Seite widmet er sich Bergendem und Schützendem: dem Lagerfeuer, dem Universitätscampus, der freien Rede, den Manieren vom Smalltalk bis zum Lächeln und Sichanstellen. Oder dem Motel, der „paradiesischen Gefängniszelle“ (Nabokov).

Damit wären wir bei der permanenten Frontverschiebung einer mobilitätsgetriebenen Gesellschaft. Schlögel widmet sich ausführlich den drei aufeinander folgenden Funktionssystemen Eisenbahn, Autoverkehr und Flug, mit ihren jeweiligen Entstehungsorten, der Fabrikstadt Detroit oder der Stahlstadt Pittsburgh, sowie den Kathedralen der Bündelung und des Umschlags: Bahnhöfen, Tankstellen, Flughäfen. Dazu kommt das Pendant im Konsum, die Malls, einem „Mikrokosmos der amerikanischen Lebenswelt“.

Wenn es ein organisierendes Zentrum all dieser Phänomene gibt, so ist es das Gitter (grid), die amerikanische Matrix, die in der Mitte des Buchs reflektiert wird. Schlögel erkennt es ausgehend von einer Skizze Thomas Jeffersons, der für die Vertreibung der Indigenen plädierte. Sie legte ein Gitternetz der Staatenaufteilung über den Kontinent, die sich in den Schachbrettmuster der Häuserblocks und der städtischen Ordnungen entlang der jeweiligen Main Street fortsetzt wie vertikal im Stahlgerüst der Wolkenkratzer oder auch den Reservaten der Native Americans, die „wie mit dem Lineal aus dem Staatsgebiet herausgeschnitten oder in dieses eingezeichnet“ wurden, Noch im Baseballfeld ist das Grundmuster zu sehen.

Anders als Richard Sennett, der im Gitter ein „willkürliches Zwangsmittel“ sah, „eine Form der reinen Wiederholung, die ganz ähnlich funktioniert wie eine industrielle Maschine“, liest Schlögel das Gitter nicht nur nach seiner problematischen Seite, der nivellierenden Monotonisierung, sondern auch als „eine gewaltige Maschine zur Homogenisierung eines riesenhaften Raumes“, die eine „widersprüchliche Natur- und Menschenlandschaft zu einer einzigen – eben der amerikanischen“ zusammenfügte.

In all den Phänomenen, die er Revue passieren lässt, erkennt er vorzugsweise jene Aspekte, die die USA zu „Amerika“ machten. Dabei kommt er in aller Dringlichkeit auf die Sklavenhaltergesellschaft und die anhaltende Diskriminierung Farbiger ebenso zu sprechen wie auf die genozidale Dezimierung der Ureinwohner. Im Blick auf Russland sieht er eine ähnliche „Erfahrung der Durchdringung, der Säuberung, der Homogenisierung mit ihren irreversiblen Folgen“ in der stalinistischen Erzeugung eines „Sowjetvolkes“.

Das Buch endet mit dem Besuch des Architekten Frank Lloyd Wright 1937 in Moskau. Dort warnte er seine Kollegen vor der New Yorker Streamline Modernity, prangerte aber auch die Zuckerbäcker-Gigantomanie der Sowjetunion an. „Die Vertikale ist Schwindel, im menschlichen Leben ist die Horizontale die Lebenslinie der Menschheit.“

Ayn Rand, 1905 als Alina Rosenbaum in Sankt Petersburg geboren, Heldin des Hardcore-Neoliberalismus, hat ihn 1943 zum Helden ihres monumentalen Romans „Fountainheadgemacht, ihn verklärt als der „libertäre, anarchische Nonkonformist“ gegen den kollektivistischen Wohlfahrtsstaat des New Deal. Wright selbst hatte geschrieben: „Die Literatur erzählt, was dem Menschen widerfährt, aber die Architektur stellt es dar und führt es uns vor Augen.“

Was in Schlögels enzyklopädischem Durchgang durch den amerikanischen Raum nicht vorkommt, sind aktuelle Bezüge. In der Vielzahl seiner intellektuellen Gewährsleute spielen auch die selbstbewussten amerikanischen Frauen, die schon Tocqueville bewunderte und die in den 1920er Jahren europäischen Konservativen zur Schreckensvision eines verweichlichenden Matriarchats wurden, kaum eine Rolle.

Von der notorischen Trias schließlich, die damals in den Blick genommen wurde, die Ernährungsmaschinerie Chicagos, die Verkehrsmaschinerie Detroits und die Bildmaschinerie Hollywoods, bleibt letztere bei Schlögel unterbelichtet. Andererseits wissen wir davon längst genug und zu viel. Was Schlögel indes zum Raum der amerikanischen Epoche zusammengestellt hat, vor allem, wie er es getan hat, dürfte selbst Epoche machen.