Im Kino: „Die Tribute von Panem – The Ballad of Songbirds & Snakes“: Sing, und du gewinnst die Hungerspiele

Jetzt hat er’s. Bei Coriolanus Snow ist der Groschen gefallen. „Die ganze Welt ist eine Arena“, spricht der 18-jährige Blondschopf, der in 150 Filmminuten zum kommenden Präsidenten von Panem gereift ist. „Und die Hungerspiele erinnern uns daran, wer wir wirklich sind.“

Na dann, gute Nacht Menschheit. Einander Rattengift ins Trinkwasser mischen, einander Dreizacks in den Bauch stoßen, einander permanent misstrauisch belauern oder den besten Freund und die Liebste verraten. Es sind nicht gerade bürgerliche Tugenden, die die brutalen Gladiatorenspiele in der faschistoiden Diktatur Panem junge Menschen lehren.

Wer überleben will, muss stark sein und das Charisma besitzen, Topquoten beim TV-Publikum einzufahren. Ein Szenario, dass Sozialdarwinismus mit Neil Postmans Klassiker „Wir amüsieren uns zu Tode“ über die zersetzende Wirkung der Unterhaltungsindustrie vereint.

Brot und Spiele. Aus diesem antiken Begriffsdoppel der Massenmanipulation einen Verkaufserfolg zu stricken, das ist der Jugendromanautorin Suzanne Collins mit ihrer 2008 begonnenen Panem-Trilogie wahrhaftig gelungen.

Dass Hollywood daraus eine nicht minder erfolgreiche Quatrologie gebastelt hat, deren letzter Teil „Mockingjay 2“ 2015 herauskam, spricht für die speziellen Rechenkünste der Filmindustrie, die ein Franchise nur fahren lässt, wenn es an Romanvorlagen fehlt.

Auf der Flucht. Coriolanus Snow (Tom Blyth) und Lucy Gray Baird (Rachel Zegler) wollen dem Kapitol entkommen.
Auf der Flucht. Coriolanus Snow (Tom Blyth) und Lucy Gray Baird (Rachel Zegler) wollen dem Kapitol entkommen.

© Murray Close/Lionsgate

Dank Autorin Collins, die mit „The Ballad of Songbirds & Snakes“ 2020 eine Geschichte geschrieben hat, die 64 Jahre vor ihrem dystopischen Fantasyabenteuer spielt, wurde letztes Jahr in Babelsberg – Studio Babelsberg ist Koproduzent – Berlin, Duisburg und Breslau das Prequel gedreht.

Wieder in der Regie von Francis Lawrence, der sicher froh war, endlich keine Kriegsfilme mit Dauergemetzel wie die letzten beiden Teile inszenieren zu müssen, sondern eine Vorgeschichte mit Panem-untypisch viel Psychologie.

Peter Dinklage als Dean Casca Highbottom in „Die Tribute von Panem - The Ballad of Songbirds & Snakes.
Peter Dinklage als Dean Casca Highbottom in „Die Tribute von Panem – The Ballad of Songbirds & Snakes.

© Murray Close/Lionsgate/Murray Close/Lionsgate

Im Jahr der 10. Hungerspiele war Katniss Everdeen, die Actionheldin, die Jennifer Lawrence zum Teenieidol aller Harry Potter verachtenden Millennials machte, selbstredend noch nicht geboren. An ihre Stelle tritt in der Vorgeschichte des Zukunftsstaats nun Rachel Zegler.

Sie zeigt nach ihrem Kinoeinstand als Maria in Steven Spielbergs Adaption der „West Side Story“ und vor ihrem Auftritt als „Schneewittchen“ in der 2024 kommenden Disney-Realverfilmung auch in Panem, dass mit Musik alles besser geht, selbst der Überlebenskampf.

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Zegler spielt Lucy Gray Baird, eine stimmstarke Countryfolk-Sängerin, die zwar aus einem freien Volk fahrender Musiker stammt, aber trotzdem als Tribut des schlimmsten Hungerleider-Distrikts 12 in die Arena zitiert wird. Ihr Mentor ist Coriolanus Snow (Tom Blyth), der als Einserschüler der Akademie des Kapitols zwar zur Elite des Landes zählt, aber trotzdem nichts zu beißen hat und sich durch neue, willkürlich eingesetzte Spielregeln um ein Universitätsstipendium und damit um seine Zukunft betrogen sieht.

Menschenverachtender Klassismus und soziale Not gerinnen im Panem-Reality-TV des Moderators Lucky Flickerman (Jason Schwartzman) zur zynischen Show. Ein Quäntchen Medienkritik steckt schon drin im Spektakel.

Dystopie in Steampunk-Ästhetik

Sonst pflegt „The Ballad of Songbirds and Snakes“ eine aus notorischer Untersicht gefilmte Steampunk-Ästhetik rostiger Industriebauten, die die Düsternis der Ära nach dem ersten Bürgerkrieg in Panem beglaubigen. Action bieten nur die Kampfszenen in der Arena, einem finsteren, steinernen Rund, das keine Ähnlichkeit mit der früheren Arena aufweist, die einem Orwellschen Science-Fiction-Wald glich.

Die Persönlichkeitsbildung von Coriolanus Snow, dem Diktator der Zukunft, und seine Romanze mit Lucy Gray sind über weite Strecken kammerspielhaft ruhig erzählt. Was durchaus funktioniert. Nur das letzte Drittel, in dem er, des Betrugs bei den Hungerspielen überführt, Strafdienst als Soldat leisten muss, zieht sich wie Kaugummi.

Die Schauwerte erhöht das Berliner-Schauplätze-Raten. Altes Museum, Strausberger Platz, Olympiastadion und Krematorium Baumschulenweg sind auch im CGI- und Requisitenflitter zu erkennen. Der Krematoriumsbau von Axel Schultes dient als Labor der sadistischen Spielmacherin Dr. Gaul (Viola Davis), die ebenso wie Dekan Highbottom (Peter Dinklage) mit ihrem sinistren Charisma den Unterhaltungsfaktor verstärkt. Die Antwort auf die Frage, ob die Menschheit die fünfte Verfilmung der Saga über einen amoralischen Zukunftsstaat braucht, werden die Kinogeher unter den Millennials geben.
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