Netflix-Doku „Depp v. Heard“: Wenn zwei ihre Schlammschlacht im Livestream austragen
Johnny Depp ist emotional. „Ich kann nur danke sagen, aus tiefster Seele. Für alles. Dafür, dass ihr für mich da wart, für eure Unterstützung. Danke“, haucht er und schickt einen Kuss in Richtung Handykamera. Die Adressaten der Liebesbekundung sind die Zuschauer des YouTube-Kanals „Popcorned Planet“ mit über 700.000 Abonnenten.
„Ihr wart meine Krieger“, versichert er dem Kanalgründer Andy Signore, „ich konnte nicht glauben, wie ihr euch zusammengetan habt und mich aus dieser Horrorshow herausgehoben habt.“
Mit „Horrorshow“ meint der Schauspieler den Gerichtsprozess zwischen ihm und seiner Ex-Frau Amber Heard, der im vergangenen Jahr von April bis Juni in Virginia stattfand. Depp hatte von Heard 50 Millionen Euro Schadensersatz wegen Verleumdung gefordert, nachdem sie sich in einem Gastbeitrag in der „Washington Post“ als Opfer häuslicher Gewalt bezeichnet hatte. Die Anspielung auf Johnny Depp als Täter war unmissverständlich.
Der britische High Court hatte eine andere Verleumdungsklage Depps gegen die Boulevardzeitung The Sun im Jahr 2020 bereits abgelehnt. Weil Heards Vorwürfe „im Wesentlichen wahr“ seien, durfte die Presse den Schauspieler weiterhin als „Ehefrauen-Schläger“ bezeichnen.
Dass bei Netflix nun eine dreiteilige Dokumentarserie über diesen Prozess erscheint, wie auch die Tatsache, dass die meisten Menschen bereits bestens über die Verhandlung informiert sind, teilweise bis ins kleinste Detail, ist dem besonderen Umstand geschuldet, dass der gesamte Prozess live im Internet übertragen wurde. Die Konsequenz war ein beispielloses Medienspektakel, das in seiner Komplexität über Monate für Diskussionsstoff sorgte und noch nicht auserzählt ist – wie die Dokumentation beweist.
Die Regisseurin bleibt unparteiisch
Ein Spoiler vorweg: Die Frage nach der Wahrheit wird auch hier nicht beantwortet. Die Regisseurin Emma Cooper bleibt unparteiisch, montiert Anklage und Verteidigung ausgewogen, lässt immer Raum für Zweifel und Ungereimtheiten. Anstatt auf der Schuldfrage liegt ihr Fokus auf den Prozessen hinter dem Prozess, die insbesondere in den sozialen Medien in Gang kamen.
Dafür muss zunächst freilich der Grundgegenstand noch mal abgestaubt werden. Mit Geigen unterlegt erzählen die Schauspieler, wie sie sich am Set von „The Rum Diary“ kennenlernten, Heard war Anfang 20, Depp doppelt so alt. „Ich warf einen Blick auf sie und wusste: Die ist es“, sagt er. „So eine Liebe gab es vorher nicht“, sagt sie. Das war’s dann aber auch mit der Einigkeit.
Es habe nicht lange gedauert, bis Depp handgreiflich geworden sei, behauptet Heard. Sie berichtet von Ohrfeigen, Faustschlägen, Tritten in den Rücken, einer schweren sexuellen Misshandlung. Es gibt Zeugen, die ihre Behauptungen unterstützen. Depp bestreitet alles und wird darin ebenfalls unter Eid bestärkt. Auch dafür, dass in Wirklichkeit Depp das Opfer häuslicher Gewalt gewesen sein könnte, oder beide Täter waren, gibt es Hinweise.
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Die dramatischen Ausführungen der Schauspieler im Gerichtssaal unterschneidet Emma Cooper mit Aufnahmen von Menschen, die gebannt auf ihre Handys starren. An der Ampel, im Café, auf der Rolltreppe, beim Zähneputzen, über der Müslischale am Frühstückstisch – stellvertretend für die Millionen Menschen, die dafür gesorgt haben, dass die Berichterstattung über den Fall in den USA laut der Filmemacherin mehr messbare Aufmerksamkeit generierte als zum Beispiel Joe Biden oder der Krieg in der Ukraine.
Was sahen diese Menschen auf ihren Screens? Manche schalteten sich vielleicht live nach Virginia, oder lasen Artikel in etablierten Medien. Die meisten von ihnen, insbesondere die Jüngeren werden die Aufbereitung der Ereignisse allerdings auf Facebook, Youtube, Twitter, Tiktok oder Instagram verfolgt haben. Zur Einordnung: In Deutschland nutzen laut dem aktuellen Vielfaltsbericht der Medienanstalten zwei Drittel der 14- bis 29-Jährigen die sozialen Medien als Informationsquelle.
Insbesondere bei Tiktok und Youtube sahen sie dort im vergangenen Frühjahr mit überwältigender Mehrheit: Unterstützung für Depp, Häme für Heard. Wurden vor Gericht brutale misogyne Nachrichten von Johnny Depp über seine Frau verlesen, war „die Community“ zwar nicht begeistert, aber in der Masse anscheinend bereit, die Sache unter schwarzem Humor zu verbuchen. Flossen bei Heard dagegen mal wieder keine Tränen, schien der Konsens zu sein: Die „Hexe“ lügt. Unzählige Gifs und Memes zeugen davon.
Was sickerte aus dem Netz in die Realität?
Was beim Surfen durch die Flut von deppfreundlichen „Reaction Videos“, „Analysen“ und Comedyclips nicht gleich offenbar wird, ist die Tatsache, dass dahinter ein lukratives Geschäftsmodell steckt. Andy Signore, der besagte Gründer von „Popcorned Planet“ produzierte über 300 Videos zu dem Fall.
Er war damit in guter Gesellschaft. Mit ausgewiesenem Pro-Depp-Content erreichten Influencer Klickzahlen in Millionenhöhe und sammelten mitunter nebenbei noch große Summen an Direktspenden von ihren Zuschauern ein. Differenzierte Kommentare und Berichterstattung waren dagegen nur wenig gefragt.
Zwei zentrale Fragen kristallieren sich in „Depp v. Heard“ deutlich heraus: Inwiefern wurde das Online-Stimmungsbild aus Profitgier künstlich verzerrt? Und, falls das geschehen sein sollte: Welchen Effekt hatte das Ungleichgewicht tatsächlich auf die öffentliche Meinungsbildung?
Dass durchaus so manches aus dem Netz in die Realität sickerte, lässt sich nicht abstreiten. Offensichtlich wird das zum Beispiel in Aufnahmen von einer Szene vor dem Gerichtsaal, als eine Meute von Depp-Fans Amber Heard mit „Amber Turd“-Rufen („Amber Kothaufen“) empfängt – ein online entstandener Wortwitz in Anspielung auf den wohl bekanntesten Disput des Ex-Ehepaars.
Depp wirft seiner damaligen Frau vor, zum Abschied auf seine Seite des gemeinsamen Bettes defäkiert zu haben; sie dagegen glaubt, es könne der Hund namens Boo gewesen sein, der unter Verdauungsproblemen leide, seit er sich als Welpe über Depps Marihuana-Vorrat hergemacht habe. Eine Shit-Show im wahrsten Sinne des Wortes.
Wäre das Urteil ohne den Livestream anders ausgefallen?
Auch die Frage, ob sogar das juristische Urteil ohne das Begleitprogramm in den sozialen Medien anders hätte ausfallen können, stellt die Doku nachvollziehbar zur Debatte. Schließlich gingen die Jury-Mitglieder – wenn auch unter der Auflage, nicht ins Netz zu schauen – doch jeden Abend nach Hause zu ihren Familien und Kommunikationsgeräten.
Unbeantwortet bleibt, wieso das Geschäftsmodell der Influencer eigentlich so gut funktionierte. Gegen Ende suggeriert die Regisseurin, dass ein Großteil des Traffics und der Interaktionen von Bots generiert worden sein könnte. Diesem potenziellen Gamechanger wird dann aber nicht weiter nachgegangen, ebensowenig wie der Frage nach den potenziellen Urhebern und deren Motivationen.
Zumindest Andy Signore dürfte neben der finanziellen auch eine private Agenda gehabt haben, die sich mit der politischen von diversen finanzstarken Playern im viel beschworenen Kulturkampf deckt – allerdings kommt auch das in „Depp v. Heard“ nicht zur Sprache. Der Youtuber wurde von seinem ehemaligen Arbeitgeber entlassen, nachdem ihm zahlreiche Kolleginnen sexuelle Übergriffe vorgeworfen hatten. Signore bestreitet das. Wie Depp inszeniert er sich als gänzlich unschuldiges Opfer einer Verleumdungskampagne im Windschatten der MeToo-Bewegung.
Vielleicht stimmt das, vielleicht auch nicht. Was aber mit Sicherheit wahr ist: Für weibliche Opfer häuslicher Gewalt waren der Prozess und die Mechanismen, die er online wie offline befeuerte, eine Katastrophe.