Das schmerzliche Eingeständnis der eigenen Ignoranz
Zumindest die ukrainischen Nationalfarben sind schon da: Jede Fahrt mit den Leipziger Verkehrsbetrieben erfolgt in Waggons mit den Schmuckfarben Blau-Gelb. Die Farben des Leipziger Wappens wirken in diesen seltsam bedrückenden Märztagen wie eine Solidaritätsgeste für das von Russland überfallene Nachbarland.
Und manch einer der Veranstaltungsorte der Pop-up-Buchmesse erinnert an die stille Ulica Darwina in Charkiw, die Darwin-Straße, in der die Architektenkammer ihren Sitz hat und die ihrerseits wie ein Freilichtmuseum für den Einfallsreichtum des ukrainischen Jugendstils aussieht – oder muss man längst sagen: aussah?
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Diktatoren nähmen auf Kulturgüter nur selten Rücksicht, meint Juri Durkot trocken. 2018 hat der Germanist gemeinsam mit Sabine Stöhr für die Übersetzung von Serhij Zhadans prophetischem Kriegs- und Donbass-Roman „Internat“ den Leipziger Buchpreis entgegengenommen. Nun wurde er zur Diskussionsveranstaltung „Nein zu Putins Krieg“ aus Lemberg zugeschaltet. An den Fliegeralarm hätten sie sich gewöhnt, so Durkot, doch nun hätten Bomben nur acht Kilometer vom historischen Stadtzentrum – und UNESCO- Weltkulturerbe – entfernt eingeschlagen.
14 Kriegsschiffe sieht die Großmutter in Odessa vom Fenster aus
Die aus Odessa stammende Schriftstellerin Marjana Gaponenko lebt in Mainz. Wenn ihre in Odessa gebliebene Großmutter dieser Tage aufs Meer blicke, erzählte sie, sehe die alte Dame eine Kette von 14 russischen Kriegsschiffen, die der schönsten Hafenstadt der Ukraine den Garaus zu machen drohen.
Die Initiatoren der Pop-up-Buchmesse hatten diese für den alternativen Leipziger Bücherfrühling zentrale Gesprächsrunde in Windeseile mit dem PEN-Zentrum organisiert. Dass die Diskussion dem PEN-Grundsatz „für die Freiheit des Wortes“ gerecht wurde, ist vor allem der Wut des Osteuropa-Historikers Karl Schlögel zu verdanken.
In den deutschen Feuilletons habe die Angst um sich gegriffen, so Schlögel: In fortdauernder Putin-Fixierung starre man gebannt auf den roten Knopf. Karl Schlögel hat nicht erst 2015 mit seinem Buch „Entscheidung in Kiew“ auf die kulturelle Eigenständigkeit der Ukraine aufmerksam gemacht. Jetzt kritisierte er neben den notorischen Ukraine-unkundigen Putin-Verstehern auch die deutsche Angewohnheit, aus Angst vor der Nivellierung der eigenen Kriegsschuld historische Vergleiche anzustellen.
Für Michail Schischkin leben die meisten Russen noch im Mittelalter
Für ihn jedoch verkörpere Putins Stadion-Rede am 18. März den postmodernen Faschismus. Der in der Schweiz lebende russische Erfolgsautor Michail Schischkin machte eine mentale Spaltung seiner Landsleute für den Krieg mitverantwortlich: „Ein kleiner Teil mit europäischen Werten erlaubt sich eine eigene Haltung, aber die meisten Russen leben noch im Mittelalter und identifizieren sich mit ihrem Stamm.“
Das schmerzliche Eingeständnis der Ignoranz gegenüber Osteuropa durchzog alle Veranstaltungen zur Lage in der Ukraine. Die aus dem galizischen Iwano-Frankiwsk stammende Wahl-Wienerin Tanja Maljartschuk bringt dieses westliche Versagen aus der Fassung. Bei einer Poetinnen-Runde im Deutschen Literaturinstitut warf sie dem Westen vor, vom russischen Täter faszinierter als vom Opfer Ukraine zu sein: „Wären die Reaktionen auf die Krim-Annexion 2014 so stark ausgefallen wie in den letzten drei Wochen, dann wäre es vielleicht nicht zu diesem Krieg gekommen.“
Der ukrainische PEN-Präsident will die „Totalblockade“ russischer Kultur
Immer weniger Ukrainerinnen und Ukrainer sind bereit, sich mit Russen oder Belarussinnen an einen Tisch zu setzen. Das gilt verschärft seit dem Aufruf des ukrainischen PEN-Präsidenten Andrej Kurkow zur „Totalblockade“ der russischen Kultur. So knisterte im roten Turmzimmer des Felsenkellers die Luft, als die ukrainische Schriftstellerin Svetlana Lavochkina auf ihre Kollegin Katerina Poladjan traf. Obwohl sie seit Jahrzehnten in Deutschland lebt, werde sie nun überall als gebürtige Moskauerin vorgestellt, meinte Poladjan irritiert: „Das drängt mich in eine Position, die mir die Möglichkeit raubt, meine Empathie und Trauer mit der Ukraine zu zeigen.“
Sie appellierte, vor allem unabhängige russische Filmschaffende nicht zu sanktionieren, die oft ihr ganzes Geld in die Produktion stecken. Diesen Idealismus könne man sich im Moment nicht leisten, konterte Lavochkina: Es gelte jetzt, sich zum „Licht oder zum Albtraum, der Dunkelheit“ zu bekennen. Das Ukrainische erlebt seit der Unabhängigkeit des Landes 1991 eine literarische Blüte. Es werde von den Russen aber traditionell kleingemacht, so Lavochkina, selbst von Dichtern wie Joseph Brodsky. Das demonstriert trefflich der Ausdruck „Kleinrussen“.
Die drei slawischen Schwestern: Russisch, Ukrainisch, Belarussisch
Nicht auf diesen imperialen Moskauer Sprachgestus hereinzufallen, dazu riefen auch Literaturübersetzerinnen im Gohliser Schlösschen auf. Russisch und Ukrainisch sind sich in etwa so nah wie Italienisch und Spanisch. Laut der Belarus-Expertin Tina Wünschmann haben die beiden Sprachen sechzig Prozent ihrer Lexik gemein, Ukrainisch und Belarussisch dagegen um die achtzig – die drei slawischen Schwestern können sich durchaus verstehen.
Russisch gehöre deshalb unbedingt zur Ukraine dazu, so die Übersetzerin Claudia Dathe: „Die ukrainische Nation verteidigt sich, egal ob ukrainisch- oder russischsprachig.“ Solche Differenzierungen endlich zu beachten, könnte ein Leipziger Fazit sein.