Träume und Schäume

Eine rote Sonne schwebt über schwarz- weißen Waben, zieht sich zum roten Ring zusammen und verwandelt sich auf weiteren Blättern in gelbe, geometrische Konstrukte. Schon die Antike vertrat die Idee vom Aufbau der Welt aus Atomen, die ständig in Bewegung sind und neue Welten entstehen lassen. Die chinesische Künstlerin Songwen Sun-von Berg bringt mit ihrer 2020 entstandene Serie „Formung und Fügung“ ihren eigenen Mikrokosmos ans Licht. Zeitlos, von meditativer Stille und innerer Dynamik sind ihre in Öl oder farbiger Tusche mit Pinseln gezeichneten filigranen Papierarbeiten in der Galerie von Anke Zeisler.

Verwehter Blütenstaub

Einmal erscheinen sie wie traumhaft schwarz hingewischte, chinesische Schriftzeichen, die ein Eigenleben beginnen. Dann sind es zierliche Liniengebilde, die sich kräuselnd über das Blatt bewegen. Mit dem Alten Testament ist die seit 1991 in Berlin lebende Zeichnerin ebenso vertraut wie mit abendländischer Philosophie, Literatur und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. In ihren „Frühlingsbildern“ wirbeln abstrakte Gebilde in Rot, Blau und Grün wie verwehter Blütenstaub über den weiß belassenen Grund. Songwen Sun-von Berg wurde 1968 in Shanghai geboren. Als Hochbegabte durfte sie studieren, doch nur Maschinenbau: Die wirtschaftlich prosperierende Volksrepublik China wollte auch Frauen für primär männlich dominierte Berufe ausbilden. Parallel dazu absolvierte Songwen Sun-von Berg die klassische chinesische Ausbildung in Kalligraphie, bei der die genaue Wiedergabe von real Gesehenem die höchste Anerkennung erhält. Kein Spielraum also für eine Kunst der inneren Bilder. In Berlin studierte Son-von Berg von 1995 bis 2002 Sinologie an der Freien Universität Berlin, danach ließ sie sich privat in Malerei und Grafik ausbilden und war Gaststudentin an der Universität der Künste Berlin. 2018 wurde sie für den Losito-Kunstpreis nominiert.

Eiskristalle, Planetenbilder

Dem Gegenständlichen hat sie sich weitgehend entzogen, Intuition und Imagination bestimmen seit Längerem ihre Kunst, auch wenn der Betrachter aus einigen ihrer bei Zeisler gezeigten Grisaillen Naturformen heraus lesen möchte: abbröckelndes Felsgestein, Eiskristalle, Fata Morgana-Landschaften oder Planetenbilder, wie von einem außerirdischen Seismographen aufgenommen und von Songwen Sun-von Berg präzise zu Papier gebracht. Die Preise liegen zwischen 250 und 2100 Eure.
Galerie Anke Zeisler, Gethsemanestr. 9, bis 14. Juli, www.galerie-zeisler.de. Weitere Bilder in der „Espresso Bar“, Keithstr. 5