85 Künstler zeigen die kulturelle Vielfalt Europas
Europa, das Problemkind. Europa, auf der Suche nach einer gemeinsamen Identität. Europa, Hoffnungszone für den Frieden. Leicht ist es nicht, im Moment über die Herausforderungen Europas zu reden, zu schnell erhitzen sich die Gemüter, es braucht andere Wege, aufeinanderzuzugehen. Kunst und Kultur könnten so ein Bindeglied sein, so unterschiedlich sie auch von Land zu Land sind.
„Diversity United“ heißt eine große Ausstellung, die am Mittwoch am Flughafen Tempelhof beginnt, und die sich vorgenommen hat, „das künstlerische Gesicht Europas“ zu zeigen. Natürlich geht das gar nicht. Wie sollte es aussehen, das künstlerische Gesicht eines Kontinents, der von Zypern über England bis Sibirien reicht? Eine gemeinsame Form, eine Textur, eine Ästhetik kann es nicht geben. Eher wäre es wohl ein recht unregelmäßiges Antlitz. In der Vielfalt liegt Europas gemeinsamer Nenner.
85 Künstlerinnen und Künstler aus 34 Ländern sind dabei, aus Deutschland, Italien, Portugal, den nordischen Ländern, aus dem Kosovo, aus Russland, Ukraine und der Türkei. Gemeint ist der Kontinent Europa, nicht die EU. Künstlerzahl und Internationalität haben Biennale-Dimensionen. Der Ort ist passend gewählt, die historischen Flugzeughangars am Tempelhofer Feld bieten immer eine mondäne Kulisse. Die Initiatoren rund um den Bonner Ausstellungsmacher, Museumsgründer und Kulturnetzwerker Walter Smerling haben bewusst viel Raum zum Flanieren zwischen den Gemälden, Skulpturen und Installationen gelassen.
Die meisten Künstler präsentieren sich mit je einer Arbeit oder Werkserie rund um die Themen Demokratie und Krise, Solidarität und Spaltung, Freiheit, Migration, Territorium und Identität. Es finden sich Kommentare auf die globale Biodiversität von der in Estland geborenen Künstlerin Katja Novitskova ebenso wie Henrike Naumanns Ost-Wohnzimmer, das den Wurzeln des Extremismus nachspürt.
Ausgewählt wurden die Künstler, darunter viele Berlinerinnen wie Monica Bonvicini, Wolfgang Tillmans, Slavs und Tatars und Anri Sala, von mehreren Kuratoren. Aus Deutschland waren unter anderem Anne Schwanz und Johanna Neuschäffer von der Galerie Office Impart mit dabei, die viel Glaubwürdigkeit in der Szene genießen. Hier kommt eine Menge Wissen zusammen über die Kunst, die im Moment in Europa erfolgreich, aufstrebend und angesagt ist.
Es ist eine generationenübergreifende Auswahl, wenngleich der Fokus auf Künstlerinnen und Künstlern in der Mitte ihrer Karriere liegt. Auch einige ältere Ikonen sind dabei, deutsche Malerstars wie Gerhard Richter und Georg Baselitz, Fotokünstlerin Katharina Sieverding, die russischen Konzeptualisten Ilya und Emilia Kabakov und der ukrainische Fotograf Boris Mikhailov, der seit langem in Berlin lebt. Alle haben auf ihre Art Geschichte und Gegenwart ihrer Herkunftsländer abgebildet.
Zur Genese der Schau erzählt Walter Smerling, Leiter der Bonner Stiftung für Kunst und Kultur, gerne, wie er 2017 „Deutschland 8“ in Peking kuratierte, eine Überblicksausstellung, die in China Kunst aus Deutschland zeigen sollte. Das Projekt habe bei ihm die Gewissheit wachsen lassen, so Smerling, dass Kunst trotz politischer Differenzen dazu imstande ist, Brücken zu bauen. So sammelte er das Selbstvertrauen für eine paneuropäische Schau.
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Und hier ist sie nun: Nach dem coronabedingt verschobenen Auftakt in Berlin, werden die Kunstwerke nach Moskau und Paris weiterziehen. Frank-Walter Steinmeier, Wladimir Putin und Emanuel Macron haben die Schirmherrschaften übernommen. Mitinitiator ist der Petersburger Dialog, ein Forum, das einst vom russischen Präsidenten und Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder ins Leben gerufen wurde. Politischer Dialog spielt also mindestens über Bande eine Rolle in Tempelhof. Doch während man sich in der Kultur aufeinander zubewegt – zeitgleich läuft zum Beispiel eine gemeinsame Romantik-Ausstellung in Moskau und Dresden – geht es in der Politik zwischen der EU und Russland auseinander.
Es ist eine gute Schau geworden, die von der Prominenz der beteiligten Künstlerinnen und Künstler lebt, von der Qualität der einzelnen Arbeiten, die für sich stehen können und den Europa-Kontext nicht unbedingt brauchen. Am Eingang schreiten die Ankömmlinge zunächst durch Olafur Eliassons „Gelben Korridor“, eine Arbeit von 1997. Monofrequenzlampen sorgen dafür, dass die Umgebung sich entfärbt, die auferlegte Monochromie irritiert und schärft die Sinne.
Die Sehnsucht nach einer transnationalen Gemeinschaft
So gewappnet, lässt man sich auch auf die erwartbaren Europabilder zu Beginn der Ausstellung ein: Man sieht eine Reihe von bunt eingefärbten Europa-Landkarten. Der Schwede Jan Svenungsson hat die Karten immer wieder kopiert und übereinandergelegt, so dass Fehler und Verschiebungen entstehen, die produktive Verunsicherung bewirken sollen. Dort stehen auch die mit Flaggen benähten Zelte, die das englisch-argentinische Künstlerduo Lucy und Jorge Orta temporär in der Antarktis aufgestellt hatte.
[Ausstellung ab Mi 9.6., bis 19.9., Flughafen Tempelhof, Hangar 2+3, Columbiadamm 10, Mi-Mo 11 -18 Uhr, 10/6 Euro]
Ihre Idee: Jeder soll symbolisch Staatsbürger der Antarktis werden können. Sogar Pässe haben sie dafür gemacht. In dem politisch neutralen Gebiet regelt ein internationaler Vertrag die friedliche Koexistenz, niemand darf dort Bodenschätze abbauen, Grenzen gibt es nicht. Eine Blaupause für eine transnationale Gemeinschaft.
Ein Eye-Catcher ist die Installation der finnischen Videokünstlerin Eija-Liisa Ahtila. Ahtila hat auf sechs Monitoren eine Fichte in Originalgröße quergelegt. „Horzontal“ heißt die Arbeit, die 2017 zuletzt in Berlin zu sehen war. Die Äste dieses mächtigen, elf Meter langen Baumes, bewegen sich sanft in diesem ungewöhnlichen Format, das Tableau-Vivant hat eine ähnlich starke Anziehungskraft wie eine Wasseroberfläche, man könnte stundenlang dabei zusehen, wie eigentlich nichts passiert, außer dass die Zeit vergeht, das Leben sich abspielt.
Die Erhabenheit und die Kraft der Natur ist voll spürbar, und doch kann man den Baum begutachten wie einen Freund, der sich kurz hingelegt hat. Darum dreht sich auch Ahtilas Arbeit, um die Frage der Koexistenz zwischen Mensch und Natur.
Anselm Kiefer widmet sich der deutschen Geschichte
Es gibt etliche Werke, die den Wald als Metapher für gesellschaftliche Zustände nutzen. Dazu gehört Anselm Kiefers bühnenartige Installation „Winterreise“. Schon dieses kunstvoll geschichtete Landschaftspanorama hier aufgebaut zu sehen, ist den Besuch in Tempelhof wert. Wie üblich in Kiefers Kunst, geht es um die deutsche Geschichte, in diesem Fall um das Erbe von Romantik und Aufklärung.
Kiefer zitiert über einer rostig-verwüsteten Traum- und Traumalandschaft die Namen von Dichterinnen und Poeten, wie Madame de Staël, die in Sachen Literatur eine Brückenbauerin zwischen Deutschland und Frankreich war. Oder Joseph von Eichendorff, den Spätromantiker und Waldliebhaber. Bis hin zu Ulrike Meinhof, der Journalistin, die zur Terroristin geworden war. Im Zentrum der Bühne steht ein Krankenbett aus rostigem Stahl und suggeriert: Kunst und Kultur bringen Aufklärung und Erhellung, wecken die Sehnsucht nach Frieden und können Gewalt und Zerstörung doch nicht verhindern. Trotzdem hat dieses Bett auf der Waldlichtung auch etwas Tröstliches: es ist eine Zuflucht. Anfang und Ende zugleich.
Über dem Bett der Bildhauerin Alicja Kwade wiederum schweben zwei Steine in einem fragilen Gleichgewicht, eine Last, die scheinbar jederzeit auf das weiche Lager herabstürzen kann. Ähnlich unsicher sind die Beziehungen der europäischen Staaten untereinander, alte Verletzungen können jederzeit aufbrechen.
Die Zukunft wird schon geplant
Es ist kein Geheimnis, dass die mittlerweile seit fünf Jahrzehnten aktiven, britischen Künstler Gilbert & George den Brexit nicht als die größte Katastrophe aller Zeiten ansehen. „Es war vorher gut, es war währenddessen gut und es wird auch danach gut sein“, ist ihre Haltung zur EU-Mitgliedschaft. Als Europäer sehen sie sich trotzdem. Und als aufmerksame Beobachter der Welt und der Menschen darin obendrein.
Die Briten haben ein Kabinett mit kaleidoskopartigen Großformaten eingerichtet. In ihren Bildern erinnern sie an Wesenszüge, die jeder gern von sich weist, etwa Nationalismus, Rassismus, Gier und Bigotterie. Wollte man überhaupt einen roten Faden in all diesen Arbeiten finden, wäre es vielleicht der kritische Blick nach vorn und zurück.
Für die Zukunft schwebt Walter Smerling, dem Impressario der Schau, Großes und vor allem Langfristiges vor. Seine Idee ist es, die Ausstellungsarchitektur der Diversity-Show nicht zu entsorgen, sondern Berlin zu schenken. Wenn der Senat und die Tempelhof Projekt GmbH als Entwicklerin möchten, bietet er an, den Hangar 2 als Kunsthalle zu betreiben. Bis 2030 soll das Flughafen-Ensemble ohnehin sukzessive saniert und zu einem „Begegnungs- und Austauschort“ entwickelt werden.
Das Programm könnte von wechselnden Kurator:innen der Stadt gestaltet werden und die internationalen Berliner Künstler:innen hätten eine Bühne. Unterstützer soll es auch schon geben, etwa Kunstsammler Christian Boros. Das nennt man wohl eine konkrete Utopie.