Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb: Alphabete, Spiele mit der Zeit und Pop
Es regnet in Klagenfurt an diesem letzten Lesetag des Bachmann-Wettbewerbs, mitunter kräftig. Im Garten des ORF-Studios in der Sponheimerstraße, der neuerdings Ingeborg-Bachmann-Park heißt, ist es enger als sonst, niemand möchte nass werden. Dass es oben im Studio keine Plätze gibt, hat sowieso Tradition. Wer nicht mindestens eine halbe Stunde vor Beginn der Lesungen da ist, den bestrafen die Handtücher oder Taschen auf den noch freien Plätzen: besetzt.
Also heißt es wieder einmal, im Café oder noch besser in dem Raum dahinter Platz zu nehmen (keine störenden Kaffeemaschinengeräusche) und die Lesungen zu verfolgen. Und siehe da, was so ein Regen vermag: Es ist dies der vielleicht intensivste, lebendigste Lese- und Diskussionstag, ohne einen gravierenden Ausfall und mit einem weiteren sicheren Preisfavoriten. Als solcher wurde Yevgeniy Breyger schon bei der Verkündung des Teilnehmerfeldes gehandelt, was eher ungewöhnlich ist für den Wettbewerb, aber mit seiner Qualität (und auch seinem Erfolg) als Lyriker zusammenhängt.
Breyger las einen Prosatext mit dem vielsagenden Titel „Die Lust auf Zeit“. Der handelt mutmaßlich von einem Jungen, einem jüngeren Mann, der auf einem Krankenhausflur sitzt und darauf wartet, in das Zimmer eingelassen zu werden, in dem sein Vater nach einem Schlaganfall liegt. Viel mehr passiert auf der Handlungsebene nicht, aber sonst eine ganze Menge: Es geht in die Tiefe der Zeit, in die mehrerer Generationen, es geht um Körperlichkeit unter anderem in Form des Versuchs der Beschreibung eines Gesichts und wie die Zeit hier ihre Arbeit verrichtet. Und es geht um die Gegenwart, um Lust.
Die Zeit und der Lyriker
Seltsamerweise ist alles sofort da, man muss sich gar nicht lange darauf einlassen, wie Mara Delius meinte. Will man überhaupt etwas gegen diesen Text sagen, dann, dass er vielleicht eine Idee zu perfekt, zu konstruiert ist, dass das Leben, die Lebendigkeit in „Die Lust auf Zeit“ eher eine Behauptung ist.
Es folgte eine überraschend gute Geschichte von Mario Wurmitzer, die von dem vertraglich angestellten Bewohner eines Tiny Houses erzählt; eine komische, auch subversive, kapitalismuskritische Geschichte mit popliterarischen Bezügen, die wie oft in solchen Fällen hier in Klagenfurt goutiert, aber ungern ausgezeichnet wird.
Laura Leupis „Alphabet der sexualisierten Gewalt“ stand dann repräsentativ für die nicht wenigen Texthybride in diesem Jahr: tatsächlich ein Alphabet, und nach jedem Buchstaben der Versuch zu erzählen, wie es einem Ich nach einer Vergewaltigung geht.
Text über sexualisierte Gewalt
Ein einerseits geschlossener Text, andererseits formal so offen, mit essayistischen Passagen („das Schweigenbrechen ist der Fetisch des öffentlichen Diskurses“), Statistiken („12 Prozent der in der Schweiz wohnhaften als FRAU registrierten Personen haben bereits eine Vergewaltigung erlebt“), Leseransprachen („Und doch:Sie hören mir zu“), weiteren Listen, semantischen Untersuchungen („Wer ,Missbrauch’ sagt, impliziert den ,Gebrauch’…) etc, dass von einer literarischen Erzählung nur schwer die Rede sein kann.
Am Ende trug Deniz Utlu, der auch als ein Favorit gehandelt wurde, ein türkisches Familienpanorama vor, in dem viel von Sprache die Rede ist, das aber selbst sprachlich etwas dünn geraten und konventionell erzählt ist, bei aller Interessantheit des erzählten Stoffes.
Insofern: Breyger gesellt sich zu Gordeev, Felnhofer und Stichmann. Nach der Diskussion steht womöglich auch Leupi auf dem Treppchen, deren Text allein von Philipp Tingler abgelehnt wurde. Piekar gewinnt den Publikumspreis.