Berlinale 2023: Junges Kino, Kino für die Jungen
Am Montag, 13. Februar, beginnt der Ticket-Vorverkauf der Berlinale. Wer sich für junges Kino interessiert, ist hier richtig. Ein kurzer Überblick über die diesjährige Auswahl der „Perspektive Deutsches Kino“ und der Filme für Kids in der Reihe „Generation“. Mehr zu Berlinale finden Sie auf unserer Themenseite www.tagesspiegel.de/berlinale.
Perspektive Deutsches Kino
Die Studentin Reyhaneh soll hingerichtet werden, weil sie einen Mann erstochen hat. Es war Notwehr, er wollte sie vergewaltigen. Sie wurde zur „Blutrache“ verurteilt, das heißt, die Familie des Opfers kann ihr „verzeihen“. Sie soll sagen, dass es keinen Vergewaltigungsversuch gab. Aber das tut Reyhaneh Jabbari nicht. Iran, Oktober 2014: Nach sieben Jahren Gefängnis wird sie gehängt, trotz internationaler Proteste.
Die Filmemacherin Steffi Niederzoll hat den Justizskandal in Gesprächen mit der heute in Deutschland lebenden Familie und Videoaufnahmen von damals rekonstruiert: „Sieben Winter in Teheran“, eine der zahllosen Vorgeschichten zu den Protesten im heutigen Iran, gehört zu den drei starken Dokumentarfilmen in der diesjährigen Perspektive Deutsches Kino.
Die beiden anderen: „Atomnomaden“ über Menschen, die in Wohnmobilen unweit von französischen Atommeilern leben und dort Atommüll entsorgen. Und „Vergiss Meyn nicht“: Der Journalist Stefan Meyn hatte die Proteste der Klimaaktivisten im Hambacher Forst mit seiner 360-Grad-Kamera dokumentiert und solidarisch begleitet – bis er selbst während einer Räumung aus einem der Baumhäuser zu Tode stürzte. Der aus seinem Material montierte, um Interviews mit Besetzter:innen ergänzte Film fragt nach den Chancen und Gefahren von Protest.
Erstmals von Jenni Zylka kuratiert, versammelt die Reihe zehn Beiträge. Wie in den anderen Sektionen der 73. Berlinale dominieren hart an der Realität angesiedelte Stoffe, manchmal in verblüffender Form. Zu den drei mittellangen Format gehört etwa das Kurzmusical „Ash Wednesday“ über Polizeigewalt in einer brasilianischen Favela. Während einer Razzia wartet eine Mutter vergeblich auf ihre von der Schule heimkehrende Tochter.
Mütter und Töchter, Eltern und ihre herangewachsenen Kinder, auch das ein wiederkehrendes Sujet. Im Familiendrama „Ararat“ stoßen Generationen und ihre unterschiedliche Lebensauffassung aufeinander. Engin Kundag hat das Schweigen, die Sprachlosigkeit der Familie, in puristische Bilder gefasst. In „Elaha“ von Milena Aboyan will eine 22-jährige Kurdin vor der Hochzeit ihr Jungfernhäutchen wiederherstellen lassen, eine teure Sache. Bis sie in der Auseinandersetzung mit der Mutter umzudenken beginnt – die Geschichte eines beginnenden Aufbegehrens.
„Geranien“ von der DFFB-Absolventin Tanja Egens schildert die Rückkehr einer jungen Schauspielerin in die heimische, kleinbürgerliche Kleinstadt und verhandelt auf unspektakuläre, aber präzise Weise die Frage, wie stark unsere Wurzeln uns prägen. Und der Schauspieler Fabian Stumm erkundet in seinem Langfilm-Regiedebüt „Knochen und Namen“ in sorgfältig komponierten Bildern die Tragfähigkeit einer Großstadtliebe zwischen einem Schauspieler und einem Schriftsteller.
Der Clash der Generationen kann auch produktiv sein: Zum zweiten Mal werden in der im HAU angesiedelten Reihe „Perspektive Match“ jüngere und erfahrenere Filmschaffende zusammengebracht. Dort trifft etwa „Elaha“-Hauptdarstellerin Bayan Layla auf ihre Kollegin Jenny Schily und die Editorin von „Ararat“, Evelyn Rack, arbeitet mit Hansjörg Weißbrich, der u.a. den Filmschnitt von „She Said“ verantwortete.
Generation KPlus
Die pfiffige Hedvig im Animationsfilm Helt super ist beim Computerspiel „Skating Pigs“ fast nicht zu schlagen. Sportlich ist sie allerdings nicht – zum Leid ihres Vaters, der als Superheld die Stadt vor allerlei Katastrophen bewahrt. Als seine Tochter unerwartet seinen Job übernehmen muss, lernt sie ihre eigenen Stärken kennen.
Wer bin ich? Was kann ich? Wer will ich sein? Die elf Langfilme, die die Sektion Generation Kplus für Zuschauer*innen ab fünf Jahren präsentiert, drehen sich im Kern alle um diese Fragen. Oft müssen sich die jungen Protagonist*innen dabei gegenüber Erwachsenen behaupten.
Le proprietá die metalli führt etwa in das ländliche Italien der 1970er und zu Pietro, der zum Forschungsobjekt wird, weil er offenbar Metall verbiegen kann. Und Romy aus Bratislava will sich nicht damit abfinden, dass ihr entflogener Wellensittich Mimi für immer fort ist. Heimlich macht sich die Siebenjährige im Wald auf die Suche.
Auch die 12-jährige Mina in Dancing Queen zeigt, was in ihr steckt. Sie löst im Nu jede Mathe-Aufgabe. Aber kann sie auch Hip-Hop tanzen? Felipe dagegen weiß genau, dass er ein Talent fürs Schauspielen hat. Doch seine Mutter hält nichts vom Theater. In Desperté con un sueño kämpft er für seinen Traum und kommt einem Familiengeheimnis auf die Spur.
Eine Reise in die Vergangenheit unternimmt auch Mary im Zeichentrick A Greyhound of a Girl, als sie ihre Großmutter zum Ort ihrer Kindheit begleitet. Während Mary begreift, dass Sterben zum Leben dazu gehört, will sich Lena im Eröffnungsfilm Zeevonk nicht damit abfinden, dass ihr Vater, ein Fischer, auf hoher See verunglückt ist. Zunehmend mischt sich unter ihre Trauer unbändige Wut. Im und am Meer spielt auch die chinesische 3D-Animation Shen Hai, in der ein Mädchen in eine fantastische Welt voller Farben und Formen gerät.
Familie spielt eine große Rolle in den Filmen. Sie macht stark, manchmal schwach, oft fehlt eine wichtige Person. Aber die Kinder und Jugendlichen geben sich Halt wie in L’amour du monde über die Freundschaft zwischen einem Teenager und einer Siebenjährigen oder im Sweet As, in der sich eine Handvoll Jugendliche auf eine Fotoexkursion im australischen Outback begibt. Und für Lu, Heldin des niederländischen Kiddo, wird ein Traum wahr, als ihre flippige Mutter sie zu einem Roadtrip nach Polen abholt. Im Rahmen der Sonderreihe 100 Jahre Disney zeigt Generation Kplus mit Cinderella einen Klassiker des Zeichentrickfilms.
Generation 14Plus
Das Leben ist wahnsinnig schön – und unfassbar traurig. Wie kriegt man das unter einen Hut? In Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war möchte Josse frisch verliebt ein Eisbär sein. Sonja Heiss’ Verfilmung von Joachim Meyerhoffs Roman eröffnet die Reihe Generation 14Plus für die Älteren, mit 14 Langfilmen. Während Josse in den 1970er- und 80er-Jahren aufwächst, leben junge Menschen heute unter anderen Vorzeichen.
Deutlich zeigen das die fünf dokumentarischen Filme im Jugendprogramm: So begleitet Darvazeye Royaha eine kurdische Frauenmiliz, die in Nordsyrien kämpft. My ne zgasnemo porträtiert Jugendliche aus dem Donbass, für die seit 2014 Krieg Realität ist. Leben im Ausnahmezustand.
Wo gibt es Platz für Träume und Zukunft? Davon erzählt auch das Selbstporträt Hummingbirds aus dem Grenzland zwischen Mexiko und den USA. Ramona beschäftigt sich mit dem Thema Teenagerschwangerschaften und balanciert dabei zwischen Fiktion und Dokumentation. Bewegtbilder und ihre politische Kraft hinterfragt die Collage And the King Said, What a Fantastic Machine.
Und welches Bild habe ich von mir und meinem Gegenüber? Feña, ein junger Transmann aus New York, begegnet in Mutt Menschen, die ihn noch als Fernanda kennen und nähert sich ihnen wieder an. Sica im gleichnamigen Spielfilm fühlt sich seit dem Tod ihres Vaters völlig verloren, findet aber in der Begegnung mit dem gleichaltrigen Suso neue Kraft.
Flammende Herzen, ohne geht es nicht. Die Liebe trifft einen zuweilen an seltsamen Orten, etwa an einer nächtlichen Bushaltestelle in Adolfo oder im Jugendknast in Le Paradis. Von Gefühlen, die Vorschriften von Religion und Kaste übersteht, erzählt mit einem Hauch Bollywood die indische Komödie Aatmapamphlet. Der Teenager Nino dagegen, darf nicht sein, wer er ist, und nicht lieben, wen er will. Almamula klagt mit flirrenden Bildern Homophobie an. Ausgrenzung erlebt in Ming tian bi zuo tian chang jiu auch Meng, der mit seinem Vater in Singapur lebt. Wird ihm der Militärdienst helfen, zu sich selbst zu finden?
Das Gestern und Heute bestimmen das Morgen und das eigene Ich. Dieses Thema zieht durch viele 14plus-Filme, auch im Drama Ha’mishlahat, der vom Gedenken an die Shoah aus Sicht junger Israelis erzählt. In Cross-Section-Vorführungen können Jugendliche Filme anderer Berlinale-Programmen sehen. Genration 14plus zeigt aus der Retrospektive, die sich Coming-of-Age-Filmen widmet, zwei Klassiker des Genres: Rue Cases-Nègres (1983) von Euzhan Palcy sowie Sofia Coppolas The Virgin Suicides (1999).
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