Kolumne „Berliner Trüffel“: Das blaue Wunder am Breitscheidplatz
Am Eingang der neuen Gedächtniskirche, die zwischen Tauentzien, Kurfürstendamm und Budapester Straße liegt, hängt ein mahnendes Schild. „Dies ist ein Ort der Stille“ steht darauf, und durchgestrichene Piktogramme signalisieren, was unerwünscht ist: mit dem Handy telefonieren, diskutieren, laut sprechen.
Wer diese Schleuse durchquert, betritt eine Gegenwalt zur lärmenden Geschäftigkeit der umliegenden Konsummeilen. Die Zeit scheint stillzustehen in diesem Kirchenraum, meditative Ruhe liegt über allem. Was nicht heißt, dass es wirklich still ist. Wenn man Glück hat, probt der Organist gerade ein paar Etüden auf seinem Instrument.
Der Breitscheidplatz ist ein mit Geschichte aufgeladener Symbolort. Überragt wird er vom halb zerstörten Hauptturm der alten Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, einer neoromanischen Trutzberg, die im November 1943 nach einem britischen Luftangriff ausgebrannt war. Statt ihn, wie ursprünglich geplant, abzureißen, ließ man den „hohlen Zahn“ – so sein liebevoll-spöttischer Spitzname – in der Wiederaufbauära stehen, als Mahnmal für den Frieden.
Der Architekt Egon Eiermann gruppierte seine 1961 eingeweihten Neubauten – die achteckige Kirche, eine flache rechteckige Kapelle und den sechseckigen Glockenturm – um die Ruine herum. Auf das historistische Pathos des Vorgängerbaus, in dessen bis heute erhaltenen Mosaiken das Herrscherhaus der Hohenzollern verherrlicht wird, antwortete Eiermann mit dem nüchternen Modernismus seiner Rasterfassaden.
Was von außen die Rationalität eines industriell gefertigten Zweckbaus verströmt, entfaltet im Inneren große Spiritualität. Rund 20000 Bleiglasfensterchen verwandeln die Kirche in eine blau leuchtende Grotte. Über dem Altar schwebt eine Christusfigur mit ausgebreiteten Armen, entworfen vom Bildhauer Karl Hemmeter.
Die Quadratfenster stammen vom Glasmaler Gabriel Loire aus Chartres und wurden passgenau in die Betonwaben eingefügt. Tritt man näher heran, sind rote, grüne und gelbe Einsprengsel zu erkennen. Je nach Intensität und Einfallswinkel des Lichts wechselt die Stimmung im Raum.
Ein schönerer Platz, um durchzuatmen und die Gedanken schweifen zu lassen, lässt sich in Berlin kaum finden.
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