100 Jahre Walter Höllerer: Zeremonienmeister der Literatur
Zeitweise trug er so viele Hüte, dass er nicht mehr wusste, wo ihm der Kopf stand. Walter Höllerer bekleidete fast drei Jahrzehnte lang eine literaturwissenschaftliche Professur an der Technischen Universität Berlin und führte die Geisteswissenschaften in eine neue kybernetische Zeit.
Als der Hörsaal für seine Autorenlesungen zu klein wurde, füllte er als kamerasicherer SFB-Moderator die Kongresshalle, das heutige Haus der Kulturen der Welt. Zusammen mit Hans Bender gab er von 1953 an die Zeitschrift „Akzente“ heraus und gründete 1963 das Literarische Colloquium (LCB) am Wannsee. Er war Lektor und Ausstellungsmacher; vor allem aber versuchte er, neben all seinen Vermittlungstätigkeiten ein Leben als Schriftsteller zu führen.
So berühmt Höllerer für seine Vielseitigkeit war, so berüchtigt war er für seine Verschleppungstaktik. Zu einer Zeit, in der Festnetztelefone und Briefe die wichtigsten Kommunikationswege waren, beherrschte er die Kunst, sogar Telegrammen auszuweichen. Ernesto Grassi, der ihm für die seinerzeit berühmte Reihe Rowohlts Deutsche Enzyklopädie eine „Theorie der modernen Lyrik“ abrang, wusste ein verzweifeltes Lied davon zu singen.
Herkunft: Oberpfalz
Zu seinem 100. Geburtstag am 19. Dezember findet sich das Erbe des gebürtigen Oberpfälzers, der in Sulzbach-Rosenberg aufwuchs und im benachbarten Amberg das Gymnasium besuchte, noch an vielen Orten. Insbesondere das LCB, das seit 2014 sein Sohn Florian Höllerer führt, spielt als Institution von nationaler Bedeutung nach wie vor eine bedeutende Rolle, und die dort von Thomas Geiger herausgegebene Zeitschrift „Sprache im technischen Zeitalter“ beweist immer wieder aufs Neue ihren Sinn für alles Gegenwärtige.
Die große Frage, die diese 2003 verstorbenen Epochengestalt aus dem Dunstkreis der Gruppe 47, ihren Nachfahren aufgibt, ist nur, als wen oder was man den Tausendsassa Höllerer, der zugleich alles andere als eine Betriebsnudel warm, erinnern will und kann. Als respektablen Dichter, der die deutsche Lyrik aus ihrer Nachkriegshermetik führen wollte? Als gescheiterten Romancier des schwer modernistischen Wälzers „Die Elefantenuhr“? Oder als Erfinder des Literaturbetriebs, der sich, seit Helmut Böttiger ihm 2005 diesen Ehrentitel verlieh, im fragmentierten Heute kaum noch zurechtfinden würde?
Der traurigste Spiegel dieser Hilflosigkeit ist eine studentische, von dem Germanisten Hans-Christian von Herrmann angeleitete Ausstellung im Foyer der TU-Bibliothek: eine Ansammlung durchaus informativer, auch Höllerers NSDAP-Mitgliedschaft berührender, leider nur schwer lesbarer Plakate: Eine Broschüre hätte bessere Dienste geleistet. Die vier im hinteren Lichthof untergebrachten Installationen, zugleich assoziativ überkandidelt und dilettantisch inszeniert, wie sie sind, fügen der Sache nichts hinzu.
Nur wenig befriedigender ist Heribert Tommeks Monografie „Flecken“: ein Stück germanistischer Fleißarbeit, das sich, obwohl viele Zeitzeugen noch am Leben sind, ausschließlich auf schriftliche Quellen stützt. Immerhin ist hier wertvolles Material versammelt.
Essayistisch nach Themenkreisen geordnet, erweckt der Band weder Höllerer als Person unter den Umständen der Geschichte und der Region zum Leben, noch schärft er seinen Gegenstand an den aktuellen Bedingungen. Überdies fehlt dem Autor jener Sinn für das Gewicht des einzelnen Wortes, wie er Höllerer zweifellos zu Gebote stand.
Vielleicht muss man auch zugeben, dass Höllerer keine Figur ist, an die sich noch produktiv anknüpfen lässt. Zu seiner Zeit war er auf seinem Gebiet der Größte: in Deutschland weltberühmt und für die jungen amerikanischen Dichter jener Jahre eine Instanz. Das ist eine Menge. Die Ewigkeit soll andere glücklich machen.
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