Alina will nicht, dass wir über den Krieg reden
3. August 2022
„Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals einen Schutzbunker in meiner Heimatstadt von innen sehen würde. Ich meine, das ist doch verrückt, wir leben im 21. Jahrhundert!“, Maria lächelt. Die anderen an unserem Tisch schweigen, denn was kann man dazu sagen?
Links neben mir sitzt ein Franzose, ich bin mir nicht sicher, was er davon verstanden hat, denn wir unterhalten uns auf Russisch. Und wenn ich es richtig gehört habe, kommt Alina, rechts von mir, aus Moskau. Sonst sammeln sich hier spontan Ukrainer, die, wie ich, schon ganz lange in Deutschland leben oder, wie Maria, erst vor ein paar Monaten kamen.
Maria hätte gerne eine eigne Tasse
An einem nicht allzu heißen Sommernachmittag sind wir alle zu einer Geburtstagsparty in einen schönen Garten in Berlin-Ost eingeladen. Kinder spielen in der Ecke, Erwachsene trinken Prosecco, zwischen den Tischen und dem Sandkasten läuft ein sehr intelligenter roter Hund.
„Wir warteten bis Anfang März, wir dachten, es kann einfach nicht lange dauern, aber dann hat’s mir gereicht. Wir fuhren nach Lwiw“, fährt sie fort.
„Wir nahmen den Evakuierungszug und er war mega langsam, denn er musste an jeder Station halten – und war dazu noch überfüllt, in jedem Abteil acht Passagiere statt vier, Menschen in den Durchgängen, Menschen im Vorraum. In Lwiw sind wir zwei Wochen geblieben, aber der Krieg war immer noch nicht vorbei, wir zogen weiter nach Polen und sind am Ende in Berlin gelandet, nur mit einem kleinen Rucksack. Alle hier waren so nett zu uns, ich kann es nicht fassen, alle Wohnungen, wo wir bis jetzt leben durften – wir hatten Glück mit den Gastgebern! Aber ich sagte neulich meiner Tochter, lass uns Tassen kaufen! Egal wo wir sind, uns gehört nichts, wenigstens die Tassen können unsere eigene sein!“
Marias Eltern sind geblieben. Warum müssen wir ausreisen, sagen sie, wir sind doch in Odessa zu Hause! Wir kennen uns erst seit einer halben Stunde, aber ich habe das Gefühl, über Maria mehr als über manche Freunde von mir zu wissen. Studiert hat sie in Moskau in den Neunzigern, erzählt sie. „Ich war noch nie dort“, sagt Karina, die neben Maria sitzt. Sie ist in Kiew geboren, zog mit ihrer Familie nach Israel, als sie elf war. Inzwischen ist sie seit vielen Jahren in Berlin. „Wahrscheinlich werde ich auch nie dorthin gehen!“ Ihr Mann Konstantin ist nicht einverstanden: „Doch, bald fahren wir nach Moskau“, lacht er, „und zwar auf einem Panzer!“
[Wenn Sie aktuelle Nachrichten zum Krieg in der Ukraine live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Wenn ich das höre, denke ich an „Moskau 2042“ von Wladimir Woinowitsch. In dieser satirischen Anti-Utopie aus dem Jahr 1986 kam ein Solzhenitsyn-ähnlicher russischer Autor vor, der im Exil lebte und davon träumte, eines Tages nach russland zurückzukehren, aber unbedingt auf einem weißen Pferd. „Genau, wenn schon nach Moskau, dann nur im Panzer – und in jeder Hand eine Himars-Rakete!“, fügt Alik aus Czernowitz hinzu.
Die einzige, die an unserem Tisch nicht lacht, ist Alina. „Ich habe noch Familie und Freunde in Moskau“, sagt sie leiser. Und dann ein bisschen lauter: „Was macht ihr? Könntet ihr bitte aufhören, über den Krieg zu sprechen?!“ Dabei schaut sie keinen von uns an, ich weiß nicht mal, ob alle sie gehört haben. Können wir das?, überlege ich. Geht das gerade überhaupt?
Ich wende mich zu Jean, dem Franzosen. Er erzählt von seinen Reisen in die Ukraine, er war schon mal in Kiew und in Lwiw. Ich erwähne, dass ich in Charkiw aufgewachsen bin, und frage mich gleichzeitig, ob Charkiw auf Französisch irgendwie anders ausgesprochen wird, aber Jean kennt meine Heimatstadt und ist begeistert – zwar hat er es bis heute nie in den Osten des Landes geschafft, aber von meiner Stadt hat er viel gehört. Er ist ein Fan der Charkiwer Schule der Fotografie.
Ich berichte von der großen Ausstellung von Boris Mikhailov und seinen Mitstreitern, die ich in Kiew besucht habe – und erinnere mich wieder an die ukrainischen Städte, an Kiew und auch an Charkiw, das in der Nacht beschossen wurde, so wie eigentlich jeden Tag seit dem 24. Februar, und dann an die Bitte von Alina.
Wir können aufhören, über den Krieg zu sprechen. Aber aufhören, daran zu denken – das können wir nicht.