„Anders als die Ukraine, durften wir uns nicht verteidigen“
Jasmila Žbanić, als der russische Angriff auf die gesamte Ukraine begann, war oft davon die Rede, dass dies der erste Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg sei. Das stimmt schon für die Ukraine nicht, vor allem aber gab es die Balkankriege der 90er. Wie war es für Sie, diese Aussagen zu hören?
Es hat mich nicht überrascht, denn ich habe das schon oft zuvor gehört und als sehr demütigend empfunden: 100.000 tote und mehr als zwei Millionen geflüchtete Bosnier*innen – also Europäer*innen – waren es offenbar nicht wert, erwähnt zu werden.
Als ich meinen Film „Quo vadis, Aida?“ gedreht habe, wurde mir klar, dass es in Europa kein Bewusstsein dafür gibt, was in Bosnien passiert ist. Nicht viele Menschen wissen vom Srebrenica-Genozid. Er wird nicht als Teil der europäischen Geschichte betrachtet.
Wie kam es zu dieser Verdrängung?
Mir hat einmal jemand eine Erklärung gegeben, die ich logisch fand: Damals war gerade erst die Mauer gefallen, Europa startete in eine neue Zeit – und dann begann der Krieg auf dem Balkan. Das ist so wie wenn du Geburtstag feierst und jemand sitzt weinend in der Ecke deines Wohnzimmers. Das willst du einfach nicht sehen.
Deutschland war mit der Wiedervereinigung beschäftigt, es ging um das Zusammenrücken Europas. Ein Krieg passte einfach nicht ins Glücksnarrativ. Dass die Opfer mehrheitlich muslimisch waren, spielte ebenfalls eine große Rolle. Europäische Muslim*innen waren dem Westen kaum bekannt und irgendwie unheimlich.
Um die deutsche Erinnerung aufzufrischen: Vor dreißig Jahren, am 6. April 1992, fielen die ersten Schüsse in Sarajevo. Wie erinnern Sie sich an den Kriegsbeginn?
Schon im März waren Barrikaden aufgebaut worden waren. Doch noch Anfang April glaubten wir nicht, dass es Krieg in Bosnien und Herzegowina geben würde. Die Bevölkerung hier war so gemischt, dass es einfach unvorstellbar war, dass die Leute aufeinander schießen würden. Als der Krieg dann tatsächlich begann, dachten wir, er würde nicht lang dauern.
Im Falle der Ukraine gab es diese Fehleinschätzungen auch. Der große Unterschied ist, dass es uns aufgrund des Waffenembargos nicht erlaubt war, uns zu verteidigen. Die im Dienste der serbischen Regierung stehende Jugoslawische Volksarmee – damals eine der stärksten Truppen Europas – griff eine völlig unbewaffnete Bevölkerung an.
Die Bosnier*innen verteidigten sich mit alten, teils selbst gebauten Waffen.
Später taten sich auch illegale Wege auf, über die wir etwa von den USA oder dem Iran Waffen bekommen haben. Insgesamt hat die internationale Gemeinschaft Bosnien damals nicht unterstützt, obwohl wir – wie jetzt die Ukraine – von einem Nachbarland überfallen worden waren. Gerettet haben uns am Ende die Amerikaner.
Als der Krieg begann, waren Sie 17 und lebten in Sarajevo. Wie sah Ihr Alltag aus?
Sofort nach Kriegsbeginn wurde Sarajevo belagert. Wir konnten die Stadt nicht verlassen, Lebensmittel kamen nicht hinein. Das Morden begann, Verwandte und Freunde wurden verwundet, getötet. Wir hatten keinen Strom, kein Essen, keine Heizung. Wir haben mit Kleidung, Schuhen und Müll geheizt – am Schluss haben wir auch Bücher verbrannt, um uns etwas kochen zu können. Die Versorgung der Stadt lief über wenige humanitäre Korridore. Hinzu kam – und das blieb nach Kriegsende für eine Weile – die allgegenwärtige Angst. Angst, getötet zu werden, Angst, dass die Eltern nicht von der Arbeit zurückkommen, dass Freunde sterben.
Ihre Eltern haben die ganze Zeit gearbeitet?
Ja, sie haben sich wie alle bemüht, ein halbwegs normales Leben aufrechtzuerhalten. Sie haben versucht, sich nützlich zu machen, der Gemeinschaft zu helfen. Wir konnten nicht den ganzen Tag im Schutzraum sitzen, haben nach einem Sinn gesucht. Durch Kultur wollten wir Widerstand gegen die Barbarei, die Zerstörung und den Hass leisten.
Ich war in einer Gruppe um den Regisseur Haris Pašović. Wir haben Theateraufführungen organisiert, später ein Filmfestival. Und als die Akademie für Darstellende Künste ihre Arbeit wiederaufnahm, habe ich mich für Regie eingeschrieben.
Wie sah der Unterricht aus?
Wir waren zu siebt in der Klasse. Im Winter saßen wir immer ganz nah nebeneinander, um uns gegenseitig zu wärmen. Wir hatten keinen Strom und auch keine Kameras. Die meiste Zeit haben wir über Filme geredet, uns Geschichten für Filme ausgedacht. Nur ganz selten hatten wir die Gelegenheit, mit geliehenem Equipment etwas aufzunehmen. Das hat uns geholfen, durchzuhalten und unsere Hoffnung zu bewahren.
Was hat Ihnen sonst noch Kraft gegeben?
Zwischen den Menschen in Sarajevo gab es zu der Zeit eine unglaubliche Solidarität, Nähe und Liebe. Wir wollten zusammenleben, haben nicht nach Nationalität oder Glauben unterschieden und waren beseelt von dem Wunsch, diese Kultur zu bewahren. Ich will das nicht romantisieren, aber sind auch, schöne Dinge passiert. Ich habe mich 1992 zum Beispiel verliebt, wir sind heute verheiratet und arbeiten auch zusammen. Er ist Damir Ibrahimović, Produzent meiner Filme.
Susan Sontag kam ins belagerte Sarajevo, um „Warten auf Godot“ zu inszenieren.
Das war wahnsinnig wichtig, dass jemand wie sie zu uns gekommen ist. Dass sie sieht, wie wir leben, dass sie davon berichtet, wie es ist, von Scharfschützen ins Visier genommen zu werden. Wir haben gespürt, dass wir nicht allein sind. Ich habe ihr damals meine Schreibmaschine geliehen, damit sie schreiben konnte. Ich habe die Maschine immer noch.
Derzeit gibt es eine Debatte über den Umgang mit russischen Künstler*innen. Das Filmfestival von Cannes wird keine russischen Filme zeigen und die European Film Academy schließt sie ebenfalls aus. Wie stehen Sie zu diesem Boykott?
Ich bin gegen einen Kulturboykott. Das habe ich auch der European Film Academy geschrieben. Unsere größten Unterstützer*innen und Freund*innen während des Krieges waren Menschen aus der serbischen Kulturszene. Die Schauspielerin Mirjana Karanović, die später in meinem Film „Grbavica“ mitspielte, hat sich beispielsweise die ganze Zeit gegen den Krieg ausgesprochen. Wieso hätte man sie bestrafen sollen?
Ich glaube, dass es in Russland viele oppositionelle Künstler*innnen gibt, sie gehören gerade zu den wenigen Lichtblicken. Sie haben es eh schon schwer, zu überleben. Man sollte es ihnen nicht noch schwerer machen.
Die ukrainische Regisseurin Alina Gorlova meinte kürzlich, dass Filmemacher*innen aus der Ukraine derzeit kaum arbeiten können, nicht auf den Festivals sein werden. „Stattdessen wird das russische Kino der Welt vorgeführt werden. Das kann nicht zugelassen werden“, sagte sie der „SZ“. Können Sie das nicht nachvollziehen?
Natürlich sollten keine propagandistischen Filme gezeigt werden. Es hätte vermieden werden sollen, dass 1995 mit Emir Kusturicas „Underground“ in Cannes ein propagandistischer serbischer Film gewinnt. Kusturica ist übrigens ein Freund von Putin.
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In Bosnien gab es sofort Solidaritätsbekundungen mit der Ukraine. Spielt die Erinnerung an die 90er dabei eine Rolle?
Ja, sicher. Die Menschen haben sofort wieder die Bilder von damals vor Augen. Die Trauer und Angst kehren zurück. Und natürlich würde man den Ukrainer*innen gerne helfen, wünscht sich das Ende des Krieges. Allerdings sehe ich ziemlich schwarz für das Land – auch für die Zeit nach dem Krieg.
Ich glaube, dass die Ukraine aufgeteilt wird und ein riesiger Ausverkauf stattfinden wird. Alles, was jetzt dem Staat gehört, wird privatisiert. Was der Krieg nicht zerstört hat, wird die Weltbank zerstören. So wie in Bosnien. Gerade werden Tausende von Menschen getötet, weil niemand versucht, ernsthafte Friedensgespräche zu organisieren. Wo ist die EU? Wie in Bosnien steht sie total verloren daneben und weiß nicht, was sie tun soll.
Von Ihren frühen Kurzfilmen bis hin zu Ihrem letzten Werk „Quo vadis, Aida?“ haben Sie sich immer wieder mit dem Krieg und seinen Folgen befasst. Wie halten Sie das eigentlich aus?
Wenn das Gefühl habe, zu einem Thema etwas zu sagen zu haben, beginne ich daran zu arbeiten. Den Anstoß gibt auch oft das Gefühl, dass etwas versteckt werden soll oder ein Lügen-Narrativ errichtet wird. Natürlich würde ich mich auch gern ganz andere Sachen widmen – und habe das ja auch schon getan, etwa mit der Komödie „Love Island“ über eine Dreiecksgeschichte auf einer Urlaubsinsel.
Auf den Festivals hieß es dann: Wieso macht die Bosnierin denn plötzlich sowas, sie sollte mal bei ihren Themen bleiben. In der extrem schwierigen Produktionsphase von „Quo vadis, Aida“ habe ich dann allerdings zu hören bekommen, dass die Leute die harten Balkan-Stoffe satt haben, dass es kein Publikum für einen Film über den Genozid geben.
Momentan gibt es in Bosnien wieder eine gefährliche Situation, der serbische Landesteil – die Republika Sprska – kündigte Ende 2021 an, sich aus dem Justizsystem des Gesamtstaates zurückzuziehen und eine eigene Armee zu formieren. Russland hat ebenfalls seine Finger im Spiel.
Putin will Europa auf verschiedenen Ebenen destabilisieren. In Bosnien hat er dafür schon seit vielen Jahren Handlanger wie das serbische Präsidiumsmitglied Milorad Dodik und das ehemalige kroatische Präsidiumsmitglied Dragan Kovik, die immer wieder versuchen, Krisen herbeizuführen. Nato-Generalsekretär Stoltenberg hat ja erst davon gesprochen, dass der Balkan ein hochriskantes Gebiet ist.
Wie funktioniert das System von Dodik & Co.?
Es beruht auf Korruption, Diebstahl und Angstmache. Sie und ihre Clans reden immer davon, dass sie im Interesse ihrer jeweiligen Volksgruppe handeln, dabei bestehlen sie ihr Volk. Riesige Vermögen und zahlreiche Immobilien befinden sich in ihrem Besitz. Gleichzeitig wächst die Armut der Bevölkerung, weshalb junge Leute in Scharen das Land verlassen. Ermöglicht wurde das alles durch das Dayton-Abkommen, das in großer Eile verfasst wurde, um den Krieg zu beenden, und immer noch als Verfassung dient.
Seither besteht das Land aus der Republika Srpska und der Bosniakisch-Kroatischen Föderation. Jede Volksgruppe stellt je ein Präsidiumsmitglied.
Die Gruppen wählt jeweils ihre Vertreter*innen, was dazu führt, dass etwa jüdische Menschen und Roma weder wählen noch gewählt werden können. Das gilt auch für mich, denn ich bin Bosnien-Herzegowinerin, nicht Bosniakin, Kroatin oder Serbin. Laut Dayton-Verfassung hat man nicht dieselben Rechte, wenn man nicht zu einer der drei Gruppen gehört. Das ist gegen jedes Menschenrecht.
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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat das in einem Urteil von 2009 bereits als Menschenrechtsverstoß eingeschätzt. Geändert wurde es allerdings bis heute nicht.
Bosnische Bürger*innen sind weiterhin Geiseln dieser Volksgruppenunterteilung. Es ist zudem ein riesiger bürokratischer Apparat entstanden, der total dysfunktional ist. Bosnien hat etwa so viele Einwohner*innen wie Berlin, dafür aber zwölf Ministerien für Finanzen, zwölf Ministerien für Kultur etc. Dazu kommen noch deren Berater und Fahrer. Es ist der Wahnsinn.
Wie könnte ein Ausweg aussehen?
Es würde helfen, wenn Bosnien in die EU aufgenommen werden würde. Ich habe gerade ein Interview mit dem serbischen Analysten Srdjan Šušnica gesehen, der sagte, dass es Putins Plan war, die Ukraine schnell einzunehmen und parallel eine Krise in Bosnien zu starten, in der Serbien einen Teil des Landes übernehmen würden und die Kroat*innen ihren eigenen unabhängigen Teil bekämen. Das hat nicht funktioniert – bis jetzt. Wenn Bosnien zur EU gehörte, wäre so etwas unmöglich. Ich habe das Gefühl, dass Deutschland das besser versteht als je zuvor.
Außenministerin Annalena Baerbock hat kürzlich in Sarajevo betont, dass die EU sich in der Region stärker engagieren will.
Das war ein wichtiger Besuch, der das Bewusstsein dafür, was in Bosnien geschieht, geweckt zu haben scheint. Dass Baerbock die Mütter von Srebrenica besucht hat, war ebenfalls eine wichtige Geste. Doch es reicht es nicht, Besuche abzustatten, weil es diejenigen, die Bosnien destabilisieren wollen, nicht von ihrem Kurs abbringen wird. Bosnien ist in großer Gefahr durch Nationalisten und Menschen, die Europa schaden wollen.
Um auf die Ukraine zurückzukommen: Es erfüllt mich mit tiefer Trauer und Scham, dass wir in Europa diesen Krieg nicht verhindern konnten. Wir haben in kürzester Zeit Impfstoffe hergestellt, um eine große Bedrohung zu bekämpfen, aber wir haben immer noch kein Mittel gefunden, um diesen Krieg zu stoppen! Ich hoffe, wir finden schnell einen Weg, denn während wir hier sprechen, sterben Menschen.