Die Bedrohung ist immer da
Wenn Abas und seine Kumpel Tee trinken und Smalltalk machen, sprechen sie nicht über das Wetter, sondern über Selbstmordattentate. „Was habt ihr über den Zwischenfall gestern gehört?“, fragt einer. „Leute im Bus sagen, dass um die 60 bis 70 Menschen getötet wurden“, antwortet ein anderer. Diese Gespräche wiederholen sich fast täglich, mit nur leichten Variationen.
Auch die Kinderlieder drehen sich um den Tod. „Gelbes Kätzchen bleib zu Haus, oder du wirst sterben“, singt der sechsjährige Benjamin immer wieder, während er an der Hand seines großen Bruders durch die staubigen Straßen von Kabul läuft.
Der Regisseur floh selbst aus Afghanistan
Die Bedrohung ist allgegenwärtig in Aboozar Aminis Dokumentarfilm „Kabul, City in the Wind“, auch wenn keine Gewalt zu sehen ist. Seit mehr als 40 Jahren herrscht in Afghanistan Krieg – aber was macht das mit dem Land und mit den Menschen, die dort leben? Mehr als 15 Mal ist Amini nach Kabul gereist, um dieser Frage nachzugehen.
Der 36-Jährige ist selbst als Jugendlicher aus Afghanistan geflohen und in die Niederlande migriert. Er studierte erst in Amsterdam und dann in London Film. Afghanistan beschäftigte ihn schon in seinen bisherigen Filmen: Für „Angelus Novus. Reise ins Ungewisse“ von 2015 begleitet er afghanische Geflüchtete in der Türkei.
In „Kabul, City in the Wind“ folgt Amini mehreren Protagonisten. Da ist der Busfahrer Abas, ein sympathischer Pechvogel, der gern mit seinen Kindern Mikado spielt und sich vor seinen Schulden in den Drogenrausch flüchtet. Der 12-jährige Afshin hat von seinem Vater, einem ehemaligen Soldaten, der das Land verlassen musste, die Verantwortung für die Familie übertragen bekommen. Afshin muss jetzt einkaufen, das Dach von Steinen und Schnee befreien und sich um seine kleinen Brüder kümmern.
Nur manchmal scheint durch, dass er eigentlich noch ein Kind ist – etwa, wenn er einem Händler vorgaukelt, Geld für ein Fahrrad zu haben, um damit mal schnell eine Runde drehen zu können. Dann wieder der Ernst seines Lebens: „Ich gehe durch die Hölle, wenn du zu spät bist“, schimpft seine Mutter mit ihm, als er nach Hause kommt. Sie ist aus dem Off zu hören, in dem Film sind fast nur Männer zu sehen.
Die Sicht auf Kabul, beklemmend schön
Szenen aus dem Alltag wechseln sich ab mit extremen Nahaufnahmen, in denen Abas, Afshin und Benjamin von ihren Träumen und Ängsten erzählen. Amini verzichtet auf Musik, vertraut ganz auf die Stärke der Bilder aus dieser irreal wirkenden, ausgeblichenen Stadt. Die Sicht auf Kabul und die Berge vom Hang, wo Afshin und Benjamin wohnen, ist beklemmend schön.
[Vorstellung am 23. November im Kino in der Kulturbrauerei, hier kann man sich anmelden. Weitere Termine folgen.]
„Kabul, City in the Wind“ gibt einen ungewöhnlichen Einblick in das Leben ganz normaler Menschen in Afghanistan, hat dabei auch lichte Momente, für die hauptsächlich Abas mit seinen Sprüchen verantwortlich ist. Amini drehte den Film schon vor mehreren Jahren, wegen der Pandemie kommt er jetzt erst in die Kinos. Das Wissen um die aktuelle Situation im Land, um die Bilder, wie sich verzweifelte Menschen an Flugzeuge klammern, fügt seinem Film eine neue Dimension der Tragik hinzu.