Zwei Herzen für den Klassenerhalt

Selbst Marco Richter hatte am Ende noch eine tragende Rolle. Der Offensivspieler von Hertha BSC, vor der Spielzeit verpflichtet und zu deren Beginn eine echte Verstärkung, war im Rückspiel der Relegation gegen den HSV zwar nicht mehr zu Einsatz gekommen. Aber als der Bus im Untergeschoss der Hamburger Arena auf die Abfahrt nach Berlin wartete, schleppte Richter aus der Kabine noch schnell einen Kasten Bier heran.

Es handelte sich um ein Produkt aus dem Portfolio des HSV-Biersponsors, was auf zweierlei schließen ließ: dass die Hamburger – erstens – nach dem 0:2 gegen die Berliner faire Verlierer waren. Und dass – zweitens – Hertha sich offenbar schlecht vorbereitet hatte. Möglicherweise aus Aberglauben. Vielleicht aber auch, weil die Berliner nach dem 0:1 im Hinspiel selbst nicht mehr an diese Wende geglaubt hatten.

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Solchen Deutungen trat Kevin-Prince Boateng mit aller Entschiedenheit entgegen. Zweifel? Gab es nicht. „Wir wussten seit gestern, dass wir hier genauso auftreten werden“, sagte der informelle Anführer der Berliner. „Man hat’s im Bus gespürt. Man hat’s im Hotel gespürt. Wir wussten: Wir bleiben in der Liga.“

Trotzdem hatte die Auferstehung des Berliner Sportclubs Hertha im Hamburger Volkspark etwas Wundersames. „Wir haben das geschafft, was alle nicht geglaubt haben“, sagte Boateng. Nicht nach dem Hinspiel vier Tage zuvor, nach der sportlich bemitleidenswerten Darbietung des Erst- gegen den Zweitligisten und vor allem nicht nach den Schwingungen, die diese Niederlage ausgelöst hatte.

In den Tagen danach kursierten Gerüchte, dass Trainer Felix Magath die Mannschaft verloren habe. Der „Kicker“ berichtete sogar von Überlegungen innerhalb des Vereins, vor dem finalen Duell ein weiteres Mal den Trainer zu wechseln. Es rumorte im Team, es soll sogar ordentlich gescheppert haben. Und dann das. „Wir hatten nichts mehr zu verlieren, so sind wir von der ersten Minute an aufgetreten“, sagte Innenverteidiger Marc Kempf.

Herthas Matchplan funktionierte

Die Berliner hatten einen Plan, und dass hinterher eine eifrige Exegese betrieben wurde, wem die Urheberschaft an diesem Plan gebührte, das erzählte einiges über die Zustände innerhalb des Teams und innerhalb des Vereins. Hertha spielte mit einer Raute im Mittelfeld. Das, so erklärte es Innenverteidiger Kempf, habe der Mannschaft die Möglichkeit gegeben, das System des HSV zu spiegeln, im Mittelfeld Mann gegen Mann zu spielen und den Gegner permanent unter Druck zu setzen. „Prince hatte einen großen Anteil daran“, berichtete Kempf.

Magath wurde in der Pressekonferenz mit der These konfrontiert, dass Kevin-Prince Boateng die Aufstellung gemacht habe, und gefragt, ob er da zur Aufklärung beitragen könne. „Da gibt es nichts aufzuklären“, antwortete er. „Boateng hat die Mannschaft aufgestellt. Wir freuen uns alle, dass wir es geschafft haben.“ Ob das ernst gemeint war oder sarkastisch, blieb wie so vieles bei Magath rätselhaft.

Letztlich war es auch egal. Hertha bleibt in der Bundesliga, weil Magath seinen Auftrag erfüllt hat. Er hat eine taumelnde Mannschaft recht schnell stabilisiert – und sie dann, kurz vor der Rettung, mit seinen erratischen Einlassungen auch wieder ein bisschen verunsichert. Eine Fortführung der Zusammenarbeit wird es nicht geben, stand laut Magath ohnehin nie zur Debatte. „Ich sehe es als selbstverständlich an, meine Sachen in Berlin zu packen und wieder nach Hause zu gehen“, erklärte der 68-Jährige.

Hertha schlaucht: Magath wirkte ausgelaugt

Auch für ihn war eine aufreibende Angelegenheit, eine, wie er sagte, „ganz, ganz schwierige Nummer mit der Hertha“. Magath wirkte nach dem letzten Spiel ausgelaugt, fast ein wenig ausgezehrt. „Obwohl es nur neun Wochen waren, bin ich von diesen Partien relativ gestresst“, gab er zu. „Ich freue mich dann jetzt wieder auf mein Zuhause.“

Dass die Sache arg knapp ausgegangen war, wird Magaths Ruhm ebenso wenig schmälern, wie die Frage, wer im finalen Spiel denn nun der Trainer war: Felix Magath an der Seitenlinie? Oder Kevin-Prince Boateng auf dem Platz? „Er hat mir heute freie Hand gegeben“, sagte Boateng. „Das machen nicht viele Trainer, einem Spieler so zu vertrauen.“ Und so sprach der Spielerroutinier dem Trainierroutinier einen Riesenrespekt dafür aus, „was für ein Feingefühl er hat und wie er mit mir umgegangen ist“

Es war eine eigentlich unmögliche Liebesgeschichte, die am Montag ihr melodramatisches Ende fand. Als Magath Mitte März nach Berlin kam, haben nicht wenige gedacht, dass es das für den inzwischen 35 Jahre alten Boateng nun wohl gewesen sein dürfte – weil er mit seinem geschundenen Körper Magaths Idee vom Fußball nicht mehr gewachsen sei.

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Doch anstatt Boateng endgültig aufs Abstellgleis zu schieben, beförderte der Trainer ihn zum Chef. „Er ist ein spezieller Typ, ich bin ein spezieller Typ“, sagte Boateng. „Es war klar: Entweder wir prallen voll aufeinander. Oder wir verstehen uns überragend. Wir verstehen uns überragend.“

Kevin-Prince Boateng hatte erkennbar seinen Spaß – in der Analyse nach dem Spiel genauso wie zuvor auf dem Platz. Gefühlt hatte er im Volksparkstadion keinen einzigen Zweikampf verloren, selbst dann nicht, wenn sich die Hamburger mit vier Mann auf ihn stürzten und ihn umzingelten.

In den 39 Pflichtspielen der Saison ist Boateng 21 Mal zum Einsatz gekommen. Nie stand er länger als 70 Minuten auf dem Platz. Bis zur vielleicht wichtigsten Begegnung der gesamten Spielzeit. Erst in der 90. Minute wurde er ausgewechselt. „Prince Boateng hat eine ganz wichtige Rolle gespielt in dieser Partie“, sagte Magath. Es war genau die Rolle, die ihm von Anfang an zugedacht war und die er nie besser ausfüllte als in diesem Spiel.

„Heute war der Prince wieder da. Wenn es drauf ankommt, bin ich wieder da“, sagte Boateng zu den Journalisten in der Mixed-Zone. „Das könnt ihr auch mal schreiben. Das ist eine schöne Überschrift: Der Prince ist back.“

Boatengs Vertrag bei Hertha läuft nun aus. Doch als Fredi Bobic, Herthas Sportgeschäftsführer, am Tag danach verkündete, welche Spieler den Klub definitiv verlassen werden, war sein Name nicht darunter. „Ich hab noch Lust“, sagte Kevin-Prince Boateng. „Ich bin gut drauf.“