Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (91): Im Bunker mit Grigory
6.12.2022
In Lwiw übernachte ich bei Dima, der wie ich aus Charkiw kommt und seit sieben Jahren in Lwiw lebt. Dima betreibt ein Café in der Bandera Straße, gestern als wir in seiner Küche saßen, habe ich versprochen, ihn dort zu besuchen. Ich muss zugeben – der Kaffee, den er zu Hause macht, gehört zu den leckersten, die ich je getrunken habe.
Dima hat ein System, bei dem er kein einziges Element dem Zufall überlässt, nur ausgesuchte Kaffeesorten, spezielle Filter, teure Kanne, besonderer Wasserkocher … ein wahrer Meister seiner Sache!
Ich wache auf, im Zimmer ist es ziemlich kalt, mein Handy hat sich nicht aufgeladen, Mist! Ich überlege, ob das Ladekabel kaputt sein könnte, und erst beim Lichteinschalten fällt mir ein, dass der Strom aus ist.
In der Wohnung ist es dunkel und ungemütlich. Gut, dass ich raus muss, um 10 Uhr bin ich mit Marla Osborn zum Frühstück verabredet. Seit Monaten folgen wir einander auf Facebook, haben aber noch keine Gelegenheit gehabt, uns persönlich zu treffen – bis heute. Zum Café, das Marla vorgeschlagen hat, laufe ich eine halbe Stunde und freue mich, auf meinem Weg noch nicht gesehene Gassen dieser wunderschönen Stadt zu entdecken, die mal an Wien, mal an Budapest, mal an Paris erinnern.
Marla und ihr Mann Jay sind nach Lwiw aus Kalifornien gekommen und wohnen bereits seit ein paar Jahren hier. Die Osborns beschäftigen sich mit der jüdischen Geschichte der Westukraine, über ihre Organisation Rohatyn Jewish Heritage habe ich von meinen Berliner Freunden gehört, die sich dort als Freiwillige engagierten.
Wir bestellen Americano und New York Cheesecake
Mit seinen massiven Rahmenspiegeln und Samtsesseln wirkt das Café recht schick. Jedoch fällt mir gleich auf, wie kühl es ist. „Die machen hier bei Luftalarm nicht zu, deswegen mag ich den Ort“, sagt Marla und klingt dabei wie eine waschechte Lwiwerin. Sie hat ein T-Shirt mit dem Logo von Rohatyn Jewish Heritage für mich – perfektes Timing, gestern habe ich festgestellt, dass alle meine T-Shirts blöderweise in Berlin geblieben sind.
Später bin ich in Dimas Laden, der klein ist. Aber der dort servierte Kaffee schmeckt, wie erwartet, großartig. Wir setzen uns im zweiten Stock, wo der Platz nur für drei Tische reicht. Dima erzählt mir stolz vom Künstler, der die Wände des Cafés bemalt hat. Ich habe Grigory Semenchuk geschrieben, dass ich im Alternativna Kava bei Dima bin – er kommt auch vorbei und bestellt, genau wie ich, ein Americano und dazu ein New York Cheesecake.
Mit dem Löffel in der rechten Hand klickt er mit der linken eine Nachricht auf seinem Handy und kündigt lächelnd an: „Für Dich, lieber Yuriy, und nur für Dich haben wir heute das volle Programm vorbereitet! Wir sollten uns am besten mit Kaffee und Kuchen beeilen, weil die russischen Raketen schon in unsere Richtung fliegen!“ Ich schaue in die Alarm-App, die ich neulich installiert habe – tatsächlich, das ganze Land ist rot. Grigory kennt einen Bunker um die Ecke, wir laufen gemeinsam hin.
Der Bunker befindet sich im Keller eines Theaters, er ist es ziemlich voll, dafür aber trocken und einigermaßen hell, der Strom ist (noch) da. Obwohl ich weiß, dass wir in Sicherheit sind, spüre ich trotzdem eine Panikattacke aufkommen. Ich brauche dringend Ablenkung – und erinnere mich an das T-Shirt in meinem Rucksack.
Marla hat mich gebeten, ihr ein Bild zu schicken, wenn ich es trage. Mit Dima und Grigory organisieren wir eine kleine Fotosession, ich lasse mich mit kahlen Wänden und Röhren im Hintergrund fotografieren.
Immer mehr Leute kommen rein, unter ihnen auch eine Frau mit einem Hund namens Kobza. Bald spielt der ganze Raum mit ihm, es wird viel gelacht. Die Raucher gehen immer wieder raus und behaupten, oben bleibt es bis jetzt ruhig, alle anderen lesen die Nachrichten in verschiedenen Telegram-Kanälen und tauschen sich aus. „Verlassen Sie den Bunker nicht“, sagt meine App, 2 Stunden lang. „Willkommen in der neuen ukrainischen Realität!“, sagt Semenchuk. „Die Zeit… diese Arschlöcher rauben uns die Zeit unseres Lebens!“
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