Wer waren die 62 Frauen, die im Bode-Museum verewigt sind?

Als wäre sie gerade dem Bade entstiegen: nur rasch ein Tuch umgeworfen, die Locken mit einer Art Turban nach oben gebunden, dabei den Blick keusch nach unten gerichtet. In ihrer perfekten Inszenierung aus Unschuld und Sinnlichkeit entsprach Juliette Récamier nicht nur dem Schönheitsideal im nachrevolutionären Frankreich. Sie war vielmehr der Inbegriff der Salonnière, die ihre Schönheit politisch zu nutzen wusste. Als Trendsetterin und Schöpferin ihres eigenen Images wurde sie von zahllosen Künstlern porträtiert, wofür die Büste von Joseph Chinard aus der Zeit um 1802/03 im Bode-Museum ein eindrucksvolles Beispiel liefert.

Es ist eine von 62 Frauendarstellungen der altehrwürdigen Sammlung, die im Fokus eines höchst innovativen und integrativen Ausstellungskonzepts stehen. Die von María López-Fanjul y Díez de Corall entwickelte Ausstellungsreihe „Der zweite Blick“, welche die Sammlung auf gesellschaftsrelevante Fragen hin untersucht, ist nach „Spielarten der Liebe“ diesmal den Frauen des Bode-Museums gewidmet. Auch wenn es keine einzige bekannte Künstlerin in der Skulpturensammlung und dem Museum für byzantinische Kunst gibt, finden sich dort zahlreiche Darstellungen von Frauen. Wer waren sie? Warum und wie werden sie dargestellt? Und was verbindet sie mit den Frauen von heute?

Im Fall der Madame Récamier stellt ein kurzer Videobeitrag von Sara Nuru, der per QR abgerufen werden kann, die Verbindung zur Gegenwart her. Auch das Model will nicht auf seine Schönheit reduziert werden, sondern wirbt als soziale Unternehmerin für nuruCoffee und für ihren Verein nuruWomen, der äthiopische Frauen mit Mikrokrediten unterstützt. Es ist einer von neun Videobeiträgen engagierter Berlinerinnen, die sich zu einem selbst gewählten Kunstwerk aus dem Bode-Museum in Beziehung setzen. So erfolgt nicht nur eine Aktualisierung, sondern auch eine Aktivierung des Blicks, wenn beispielsweise Jenny De la Torre Castro, Ärztin und Gründerin des „Gesundheitszentrums für Obdachlose“, sich die „Königin Jeanne de Navarre als Stifterin“ von 1305 zum Vorbild nimmt oder Anastasia Biefang, Trans-Aktivistin und Offizierin, in der lebensgroßen „Diana als Jägerin“ (um 1720/50) von Bernardino Cametti eine durchsetzungs- und willensstarke Frau erkennt.

Die Video-Reihe ist die letzte von sechs thematischen Routen, auf denen die Frauen des Bode-Museums mithilfe von Raumtexten neu entdeckt werden können. Dabei steht nicht die ästhetische Betrachtung im Vordergrund, sondern die interdisziplinäre Erforschung ihrer Geschichten, die oftmals hinter stereotypen Rollenbildern verborgen bleiben. Das betrifft historische Frauenfiguren genauso wie die Frauen aus biblischen und christlichen Erzählungen oder der griechisch-römischen Mythologie. Wem war etwa bewusst, dass die von Jean-Antoine Houdon um 1806 porträtierte Dr. Dorothea von Rodde-Schlötzer die erste Frau Deutschlands war, die mit 17 Jahren zum Doktor der Philosophie promoviert wurde, als erste einen Doppelnamen annahm und in einer unkonventionellen Dreiecksbeziehung lebte?

Wie sehr das Rollenbild der Frau von der biblischen Überlieferung geprägt ist, macht schon ein Blick auf den zweiten Schöpfungsbericht klar. Die Erschaffung Evas aus der Rippe Adams weist ihr eine nachgeordnete Position zu, die im Sündenfall sogar noch mit der Rolle der Verführerin und Sünderin gepaart wird. Mit der Gegenfigur Marias als „zweiter Eva“ ist die Antithese der bösen und guten Frau etabliert. Als Inbegriff von Jungfräulichkeit und Mutterschaft hält die Maria der Pazzi-Madonna (um 1420) den Jesusknaben in ihren Armen. In inniger Umarmung sind ihre Köpfe in Donatellos Flachrelief aneinandergelegt, das zu den Meisterwerken des Bode-Museums zählt. In Marias Ausdruck der Zärtlichkeit und Trauer ist das universale Gefühl elterlicher Liebe und Angst eingefangen. Dass Maria auch eine liturgische Autorität war, bleibt dagegen unsichtbar.

Eine Skulptur von Dorothea von Rodde-Schlözer.Fotos: SMB, Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst / Antje Voigt

Genauso lässt sich die Mythologie auf ihre geschlechtsspezifischen Rollenbilder hin untersuchen. Als Göttin der Liebe und Schönheit repräsentiert Venus naturgemäß den Prototyp des idealschönen Akts. In Girolamo Campagnas „Venus Marina“ (um 1600) zeigt sich der zuerst von Praxiteles in der Knidische Aphrodite begründet Typus der Venus pudica. Ihre Scham bedeckend verkörpert sie ein Ideal von Weiblichkeit, das passiv, keusch und erotisch zugleich ist. Damit wird sie leicht zum Opfer von Missbrauch und Vergewaltigung, die einen wesentlichen Bestandteil der Mythologie darstellen. „Der Raub der Proserpina“ (1621) von Adrian de Vries ist nur eins von zahllosen Beispielen für die verharmlosende Darstellung sexualisierter Gewalt. Die geschraubte Bronzegruppe erscheint eher wie eine elegante Hebefigur als eine brutale Schändung.

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Unter dem Blickwinkel von Genderstudien und feministischer Kunstgeschichte werden in einer 4. Route auch die Männer eines zweiten Blicks gewürdigt, die sich um die Gleichberechtigung der Geschlechter verdient gemacht haben. Zu ihnen zählt der meist im Hintergrund dargestellte Josef, der als Beschützer der schwangeren Maria und Ziehvater Jesu eine moderne Patchwork-Familie begründet. Allen voran aber ist es Jesus selber, der die Frauen, ob Heidinnen, Prostituierte oder Ehebrecherin, als gleichberechtigte Personen behandelt hat. Diese neue Egalität und Nächstenliebe geraten allerdings in den Briefen des Paulus, die zu den entscheidenden Quellen für die Rolle der Frau gehören, immer wieder in Konflikt mit den patriarchalen Strukturen männlicher Dominanz.

[Bode-Museum, Am Kupfergraben, bis auf Weiteres, Di – So 10 – 18 Uhr]

Schließlich markiert die 5. Route eine Leerstelle für die fehlenden oder nicht bekannten Künstlerinnen im Museum. Denn hinter jedem Werk unbekannter Urheberschaft kann genauso auch eine Künstlerin stecken. Marginalisierten, tabuisierten oder stigmatisierten Frauen einen Raum im Museum zu geben, ist das Ziel der Kooperation mit dem Frauentreff Olga, einer Anlauf- und Beratungsstelle für drogenkonsumierende Frauen, Trans*Frauen und Sexarbeiter*innen. Diese selbst aufgenommene Fotos mit begleitenden Texten ermöglichen einen Blickwechsel und geben selbstbestimmte Einblicke in die Lebenswirklichkeit des Straßenstrichs. Damit ist das Bode-Museum nicht mehr nur Ort der christlich-byzantinischen Kunst und der Bildung, sondern der konkreten Auseinandersetzung mit aktuellen Fragestellungen um Gleichberechtigung und Teilhabe.

Die großartigen Bildwerke des Hauses sind immer einen Besuch wert, aber mit dem „zweiten Blick“ auf die Geschichte der Frauen jenseits stereotyper Geschlechterbilder lohnt er sich umso mehr